Darum gehts
- EU-Verträge noch geheim. Ausgewählte Personen erhalten vorzeitigen Einblick
- Aussenpolitiker sind verärgert
- Aussenminister Cassis will sich mit Bundesrat besprechen
Die Verträge zum neuen EU-Deal sind für die breite Öffentlichkeit noch geheim. Nur ein ausgesuchter Kreis bekommt derzeit in einem Reading Room unter strengen Bedingungen vorzeitig Einblick in den Vertragstext in englischer Fassung, wie Blick letzte Woche aufdeckte.
Das sorgt für mächtig Ärger im Bundeshaus. Zahlreiche Parlamentarier fühlten sich übergangen. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats schickte FDP-Aussenminister Ignazio Cassis (64) sogar einen Protestbrief und forderte Einsicht für alle Parlamentarier, wie der «Tages-Anzeiger» berichtete. Und SVP-Nationalrat Alfred Heer (63, ZH) will das ungewöhnliche Vorgehen in der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats zum Thema machen.
Sondereinsicht für Efta-/EU-Delegierte
Doch die Wirrungen um die Akteneinsicht nehmen kein Ende. Nächste Woche findet in Brüssel das 44. Interparlamentarische Treffen Schweiz–EU mit Mitgliedern der Bundesversammlung sowie des Europäischen Parlaments statt. Offenbar konnten europäische Parlamentsabgeordnete die Vertragsentwürfe bereits anschauen, das Gleiche gilt nun auch für die Schweizer Teilnehmenden des Treffens.
Die helvetische Efta-/EU-Delegation zählt samt Stellvertretern zehn Mitglieder. Die Hälfte davon ist beim Treffen dabei – und nur diese sollen nun «aufgrund der zeitlichen Dringlichkeit» ebenfalls in die Verträge Einsicht nehmen können, wie Blick erfahren hat. Dazu gehören etwa Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (61, BL) oder SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (64, BL). Ebenso SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi (46) als Delegationsleiter.
Für jene Delegationsmitglieder, welche nicht nach Brüssel reisen, gilt das Privileg hingegen nicht. Das sorgt gleich wieder für Zündstoff in den Reihen der Bundespolitiker.
Öffnet Cassis für alle seine Pforten?
Oder kommt es gleich nochmals ganz anders? Aussenminister Cassis versucht die Wogen in seinem Antwortschreiben an die Aussenpolitische Kommission zu glätten. Er nehme das Anliegen «sehr ernst», hält er darin fest. Der Bundesrat habe von Beginn weg «einen transparenten Ansatz verfolgt», betont er und verweist auf verschiedene Dokumente, die bereits veröffentlicht worden seien. Auch seien die interessierten Parlamentskommissionen «über den Verlauf der Verhandlungen laufend informiert» worden.
Zudem macht er den Aussenpolitikern ein besonderes Versprechen: Er werde ihr Anliegen «noch vor der Paraphierung der Abkommen dem Bundesrat zum Entscheid unterbreiten» – voraussichtlich also noch im Mai. Gibt der Bundesrat grünes Licht, könnten also sämtliche Bundesparlamentarier im Reading Room einen Termin buchen.
SVP schiesst scharf
Dies SVP fordert, dass der Bundesrat den Vertrag nun rasch öffentlich macht. «Der EU-Vertrag ist für die Schweiz noch schlimmer als befürchtet», heisst es in einer Mitteilung. Und: «Der Vertrag ist dem Volk sofort offenzulegen.»
SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (55, GR) und Fraktionschef Thomas Aeschi (46) konnten 750 Seiten Vertragstexte am Mittwochmorgen anschauen. «Ich bin schockiert darüber, wie schlecht dieser Vertrag verhandelt wurde», so Aeschi vor den Medien. «Damit würde alles zerstört, was die Schweiz erfolgreich macht. Ich sehe unsere schlimmsten Befürchtungen mehr als bestätigt.» Ihm seien zu den bisher kommunizierten Inhalten bisher zwar keine Differenzen aufgefallen, doch sie hätten eben auch viel gesehen, dass noch nicht kommuniziert worden sei, sagte Aeschi.
Sie sei nicht überrascht worden, aber «etwas erschlagen», sagte Martullo. «Der Vertrag ist kompliziert und voller juristischer Winkelzüge.» Ihre Befürchtungen etwa bezüglich Stromabkommen seien bestätigt worden. Zu den konkreten Inhalten dürfe sie aber nichts sagen. Es gebe aber unzählige EU-Richtlinien und Detail-Regelungen, welche die Schweiz übernehmen müsste. Dem Bundesrat gesteht sie aber zu, dass er bisher korrekt informiert habe.
SP-Wermuth: «Es wird keine Bombe platzen»
Ganz anders als die SVP sieht es die Linke, wenn es um die Bewertung der Inhalte geht. «Ich kann Entwarnung geben: Es wird keine Bombe platzen», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth (39), der sich die Dokumente ebenfalls bereits anschauen konnte. «Allen Unkenrufen zum Trotz findet sich in den Texten nichts Überraschendes. Es entspricht jenen Eckwerten, über welche der Bundesrat öffentlich informiert hat.»
Trotzdem hat sich Wermuth während zweier Stunden im Lesesaal fleissig Notizen gemacht. Handschriftlich, drei Seiten voll. «Die Schweiz hat diesmal relativ gut verhandelt. Gerade in den kritischen Bereichen wie Lohnschutz, Schutzklausel oder Bahnverkehr haben wir uns einen grossen innenpolitischen Handlungsspielraum bewahrt», urteilt der SP-Mann. «Diesen Spielraum müssen wir für die innenpolitischen Begleitmassnahmen nun auch nutzen, das ist matchentscheidend.»
Gelassene GLP
Offen bleibt, wie dies die anderen Parteien sehen. Die Grünen haben nächste Woche einen Termin. Die GLP wiederum zeigt sich gelassen und überlegt sich noch, ob sie einen Sondertermin buchen will. «So oder so begrüssen wir es, dass die Verträge in wenigen Wochen für alle in deutscher, französischer und italienischer Sprache publik gemacht werden», so Co-Generalsekretär Pascal Tischhauser (54). «Damit sich sämtliche Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen können, dass die Bilateralen III ein gutes Lösungspaket sind, um den erfolgreichen bilateralen Weg auch für die Zukunft abzusichern.»