Jeder Rappen zählt!
Wird die Schweiz zum Selbstbedienungsladen der Stimmbürger?

Früher stimmten die Schweizer gegen mehr Ferien. Heute greift das Stimmvolk bei Abstimmungen dem Staat in die Tasche, damit es profitiert: 13. AHV, ein Halb-Gratisabo für den ÖV, Deckelung der Krankenkassenprämien. Warum ist das so gekommen? Eine Analyse.
Publiziert: 00:21 Uhr
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Aktualisiert: 00:36 Uhr
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Selbstbedienungsladen Schweiz? Die Bevölkerung hat gleich mehrfach Vorlagen angenommen, die ihr Geld bringen, aber die Allgemeinheit sehr viel kosten.
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

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Lucien FluriCo-Ressortleiter Politik

2012 staunte die Welt: Die Schweiz lehnte mehr Ferien ab. Tüchtige, bodenständige Menschen entschieden sich an der Urne für ein Nein – mit Blick auf die Wirtschaft und in Eigenverantwortung. Wenn es Land und Wirtschaft gut geht, geht es auch mir gut. Wir waren stolz!

Doch der Wind hat gedreht: Die Schweizerinnen und Schweizer schauen zunehmend zuerst auf ihren persönlichen Vorteil, wenn sie abstimmen. Mit Eigenverantwortung, Extra-Fleiss und unserer Selbstlosigkeit können wir vor der Welt nicht mehr protzen. Das neue Motto: Me first! Ich zuerst!

Das zeigen die Abstimmungen vom letzten Sonntag:

  • 365 Franken sind genug! Mehr wollen die Zürcherinnen und Zürcher nicht mehr für das ÖV-Jahresabo in ihrer Stadt bezahlen. Der Staat soll übernehmen. Dabei sind Züge, Trams und Busse schon voll – und hochsubventioniert.
  • Die Tessinerinnen und Tessiner deckelten am Sonntag ihre Krankenkassenprämien. Mehr als 10 Prozent seines Einkommens soll kein Haushalt mehr bezahlen. Den Rest soll der Staat übernehmen.
  • Am Sonntag wurde der Eigenmietwert abgeschafft. Vier Mal vorher ist das nicht geglückt. Jetzt haben viele ältere Eigenheimbesitzer und Stockwerkeigentümerinnen an der Urne für die Abschaffung gesorgt – und für ihr Portemonnaie etwas Gutes getan.
  • Im März 2024 gönnte sich das Schweizer Stimmvolk eine 13. AHV. Verbunden mit Milliardenkosten. Wer das bezahlen soll: Schauen wir später!
  • Bald kommt der Entscheid, ob Ehepaarrenten gedeckelt bleiben sollen oder ob ältere Paare mehr AHV erhalten sollen. Geht das so weiter, wird die Vorlage wohl angenommen.

Machen wir Schweizerinnen und Schweizer unseren Staat gerade zu unserem Selbstbedienungsladen?

Weniger vernünftig sind wir nicht geworden. Was hat sich also geändert in diesem Land? Weshalb soll der Staat zunehmend der Garant sein, der uns ein Leben in Wohlfahrt berappt? Vier Punkte:

1

Wir haben den Massstab verloren

Zweimal in fünfzehn Jahren wurden über Nacht Milliarden für eine taumelnde Grossbank bereitgestellt. Und zwischen diesen Banken-Abenteuern war Corona. Auch da standen in Windeseile Milliarden bereit für die Wirtschaft. Zu unser aller Nutzen zwar. Aber es nährte den Verdacht: Da ist Geld vorhanden. Wenn man hoch bezahlten Managern die Boni und den Hintern retten kann, warum dann nicht der einfachen Bürgerin ein paar Batzen geben?

2

Die Ansprüche sind gewachsen

Haus, Auto, Ferien: Das gehört beim Mittelstand zum Selbstverständnis. Unser Lebensstandard liegt weit über dem anderer Länder. Die Zuversicht aber schwindet, dass die Zukunft für die eigenen Kinder besser wird. Muss jetzt der Staat dies für uns ausgleichen?

3

Das Bevölkerungswachstum spüren wir alle

Das Wachstum nützt uns indirekt. Dem Land geht es gut, die AHV wird gesichert. Aber direkt sehen wir Stau, überfüllte Züge, fehlende Wohnungen, unbezahlbare Häuser. Auf dem Lohnzettel ging es in den letzten Jahren nicht gleich aufwärts wie bei den Kosten. Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf ist zuletzt gar gesunken.

4

Die Politik liefert nicht

Wo Besserung ausbleibt, wächst die Staatsverdrossenheit. Bei den steigenden Wohnpreisen hat der Aktionsplan von Bundesrat Guy Parmelin (65) bisher nichts bewirkt. Jahr für Jahr steigen die Krankenkassenprämien. Jahr für Jahr neue Versprechen. Aber ändern tut sich nichts. Das macht ohnmächtig. Und wer sich ohnmächtig fühlt, setzt Zeichen. Kein Wunder deckelt das Tessin die Krankenkassenkosten: Dort sind die Löhne am tiefsten, die Prämien am höchsten.

Das Problem bei alledem: Die Rechnung, die wir am Abstimmungssonntag machen, geht schon am Montag nicht mehr auf. Denn weder Politiker noch Staat zahlen all das. Sondern wir Bürger. Wir sind der Staat. Um das zu finanzieren, steigen letztlich Steuern, Lohnabzüge oder Mehrwertsteuern.

Und am Ende bezahlen wir nicht nur mehr. Wir zahlen auch einen hohen Preis: Der jüngeren Generation wird viel aufgebürdet. Ihr wird das Leben schwer gemacht. Oder wir brauchen noch mehr Junge, die zuwandern, um in einer älter werdenden Gesellschaft all das zu leisten und zu bezahlen. Wollen wir das?

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