Ballone! Blaue und pinke Ballone setzen Farbtupfer ins Grau. Wir befinden uns am Samstagmorgen vor dem Berner Wankdorf-Stadion. Hier findet kein Kindergeburtstag statt, sondern die Delegiertenversammlung (DV) der FDP Schweiz.
Es ist nicht irgendeine DV, sondern der Parteitag, der im Vorfeld für so viel Nervosität gesorgt hat wie schon lange nicht mehr. Auf der Traktandenliste stand die Abstimmung, wie sich die FDP zum neuen Vertragspaket mit der EU positionieren soll. Oder, präziser: Wie man auf die laufende Vernehmlassung des Bundesrats antworten soll. 120 Rednerinnen und Redner haben sich angemeldet! Der abtretende Parteipräsident Thierry Burkart (50) schwärmt bei seinem Auftritt von einem «Fest der Demokratie». Keine andere Partei habe den Mut, sich so offen der heiklen Europafrage zu stellen. Das ist ein bemerkenswertes Votum, zumal ebendieser Thierry Burkart vor der grossen Europadebatte im Land als FDP-Chef das Weite sucht.
Michel und der böse Verdacht gegen Schneider-Ammann
Burkart profilierte sich in der Vergangenheit als Europaskeptiker und hat nun erfolgreich verhindert, dass er die Haltung seiner Partei nach aussen vertreten muss. Eher überraschend war eine andere Intervention. Vor ein paar Tagen lehnte sich alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann (73) aus dem Fenster und stellte sich in einem «NZZ»-Kommentar gegen die «Bilateralen III». Die Einmischung des ehemaligen Wirtschaftsministers, der lange den äusserst europhilen Industrieverband Swissmem präsidierte, sorgte für Verblüffung. Der Ypsomed-Unternehmer und Solothurner FDP-Nationalrat Simon Michel (48) heizte daraufhin via Social Media Spekulationen an, ob es sich tatsächlich um die wahre Haltung von «JSA» handle und ob dieser überhaupt noch imstande sei, einen Text zu verfassen. Später sah sich Michel zu einer Entschuldigung genötigt.
Eine andere Stimme ertönte aus dem Wallis. Alt Bundesrat Pascal Couchepin stellte eine Erhöhung der Parteispende in Aussicht, wenn die Delegierten Ja zu Europa sagen. Das alte Bonmot «Servir et disparaître» für ehemalige Magistraten wiegt nicht mehr viel. Umso erstaunlicher war am Samstag, wer alles fehlte. Die Liste der Abwesenden jedenfalls war illuster: Die alt Bundesräte Johann Schneider-Ammann, Hans-Rudolf Merz, Pascal Couchepin und Didier Burkhalter blieben dem Spektakel ebenso fern wie die ehemaligen Parteipräsidenten Philipp Müller und Fulvio Pelli.
Ignazio Cassis' Heimspiel
Das Feld wurde dem amtierenden Aussenminister Ignazio Cassis (64) überlassen. Der viel gescholtene EDA-Vorsteher will im Herbst seiner Bundesratslaufbahn den grossen europapolitischen Coup erzielen. Seine Parteifreundin in der Regierung, Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter (61), war nicht im Wankdorf. Cassis fühlte sich sichtlich wohl und wähnte sich in einem Heimspiel, bei der Verabschiedung von Präsident Burkart witzelte er über dessen türkisfarbene Vespa («ein bisschen Italianità schadet nie»), er pries die Verträge als Weiterführung des bilateralen Wegs, das sei «der freisinnige Weg»; der Bundesrat habe sich damit «für Stabilität und gegen Sicherheit» entschieden.
Im Restaurant werden den Besucherinnen und Besuchern Wein ausgeschenkt – Tessiner Merlot und Neuenburger Chardonnay. Am Buffet gibt es Siedwürste, auch in veganer Variante. Man befindet sich im vierten Jahrzehnt seit 1992, seit der europapolitischen Klatsche des Bundesrats und dem grossen Erfolg von Christoph Blocher (85). Dessen Partei, die SVP, hat seither markant an Wähleranteil gewonnen, laut einer Tamedia-Umfrage würde sie derzeit 30 Prozent erreichen. Der FDP liefen zeitgleich die Wähler davon. 14,3 Prozent erreichte sie an den letzten Wahlen.
«Wehret den Anfängen!», warnte Wasserfallen
Und doch ist die FDP ein Scheinzwerg. 14,3 Prozent mögen wenig sein für die Staatsgründerpartei, aber was ist schon der Wähleranteil! In der Schweiz steckt überall FDP drin, im föderalen Bildungs- und Hochschulsystem, in der liberalen Wirtschaftsordnung, in der im internationalen Vergleich tiefen Staatsquote, in der helvetischen Grundskepsis gegenüber jeder Form von zentralistischer Macht.
Das war denn auch die Argumentation der Gegner um den Zürcher Stadtrat und Ex-Nationalrat Filippo Leutenegger (72). «Die EU ist nicht unser Nachbar!», sagt er, «Deutschland ist unser Nachbar, die Lombardei ist unser Nachbar. Brüssel nicht.» Und sein Mitstreiter, der Berner Nationalrat Christian Wasserfallen (44), wies auf mögliche Verschärfungen beim Lohn- und Kündigungsschutz hin: «Wehret den Anfängen! Wir wollen keine Zustände à la française.» Überhaupt gehe es nur um einen volkswirtschaftlichen Nutzen «im Promillebereich des BIP».
Gewerbevertreterin Schneeberger enthielt sich
Die Vorbehalte gegen einen drohenden Souveränitätsverlust nützten nichts gegen Simon Michel, der mit Holzkühen für Kinder das Problem der Rechtssicherheit beschrieb. Bemalte Holzkühe müssten auf ihre Gefährlichkeit überprüft werden, ehe sie exportiert werden könnten. Die neuen Verträge würden garantieren, dass hier keine bürokratische Willkür herrscht.
Die Delegierten folgten mit 330 Ja- und 104 Nein-Stimmen ihrem Bundesrat. Die FDP ist eine Europapartei. Die Bedenken der Gegner wurden in den Wind geschlagen. Und nicht nur das: Auch bei der Frage, ob für die Abstimmung ein Ständemehr, also die Mehrheit der Kantone nötig sei, siegte Cassis. Bei der Europafrage gab es neun Enthaltungen – eine davon kam von der Baselbieter Nationalrätin Daniela Schneeberger (58). Das passt durchaus ins Bild: Sie vertritt als Vizepräsidentin den Schweizerischen Gewerbeverband, der sich zuvor in einem kryptischen Communiqué zu einem herzhaften Jein zu den Verträgen mit Brüssel bekannte. Die Europafrage spaltet nicht nur Parteien, sondern auch Verbände und Gewerkschaften.
Jetzt müssen Vincenz-Stauffacher und Mühlemann liefern
Nur die FDP scheint an diesem Samstag ungewohnt einig, die Spielverderber um Filippo Leutenegger wurden in die Ecke gedrängt. Das klärt die politische Landschaft: Wenn die Nation auf ihre Schicksalsfrage zusteuert, sind die Fronten klar: Die SVP auf der einen Seite, die restlichen Parteien auf der anderen Seite.
Nach ein paar Stunden ist die Show vorbei. Cassis dürfte sich erleichtert fühlen, die beiden neu gewählten Co-Präsidenten Susanne Vincenz-Stauffacher (58) und Benjamin Mühlemann (46) haben nun die Aufgabe, die Partei durch diese Debatte zu führen. Die blauen und pinkfarbenen Ballone sind noch da. Und beim Eingang eine aufgeblasene Riesenuhr mit der Zahl 2027, dem Jahr der nächsten nationalen Wahlen. Dann ist Zahltag.