Endlich Lockern! Lockdown verlängern! Massnahmen verschärfen!
Darum haben im Corona-Streit alle recht

Nächste Woche will der Bundesrat entscheiden, wie es mit dem Lockdown weitergeht. Der Druck auf die Landesregierung ist enorm. Was es noch schwieriger macht: Es gibt keine Gewissheiten.
Publiziert: 11.02.2021 um 01:17 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2021 um 11:44 Uhr
Wie weiter mit Corona in der Schweiz? Soll der Bundesrat die Massnahmen verlängern?
Foto: Keystone
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Sermîn Faki und Fabian Vogt

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Von wem das Zitat stammt, ist unsicher. Dass es, wenn auch leicht abgegriffen, den Nagel auf den Kopf trifft, ist gewiss.

Selten wären Prognosen erwünschter als genau jetzt. Ende Februar endet der vom Bundesrat verordnete Corona-Lockdown, nächste Woche will die Regierung entscheiden, wie es danach weitergeht.

Wird sie den Lockdown lockern, wie es SVP, Gewerbe und sogar Gewerkschaften verlangen? Wird sie das geltende Regime einfach verlängern? Oder wird sie gar die Schraube noch einmal anziehen, wie es sich die wissenschaftliche Taskforce wünscht?

Der Aufschrei ist sicher

Egal, wofür sich der Bundesrat entscheidet – er wird auf Unverständnis, Kritik, ja Wut stossen. Lockert der Bundesrat, werden die Vorsichtigen aufschreien, jene, die auf Nummer sicher gehen wollen, aber auch Betroffene, die unter Long Covid leiden, die Krankheit extrem schwer durchgemacht oder Angehörige verloren haben.

Lockert er nicht, kommt er unter die Räder von Gewerblern, Verbänden und SVP, die auf die sinkenden Fall- und Todeszahlen hinweisen sowie auf die enormen wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns. Auch die Jungen halten es kaum noch aus in den eigenen vier Wänden. Würden sie den Lockdown überhaupt noch befolgen, wenn es draussen wieder wärmer wird? Und alle anderen Corona-Müden?

Der Bundesrat steckt im Dilemma: SVP, Taskforce, Jugendliche, alle andern – recht haben alle.

Die Taskforce hat recht

Die Taskforce verweist auf die nur langsam sinkenden Zahlen. Seit Anfang Februar bewegen wir uns um die 1600 Ansteckungen pro Tag. Wirklich rückläufig ist die Pandemie nicht.

Trotz zweitem Lockdown gelingt es zudem nicht, die Ausbreitung der Briten-Mutation zu bremsen. «Die Anzahl Infektionen mit B117 wächst in der Schweiz exponentiell und verdoppelt sich etwa alle zehn Tage», sagt Taskforce-Chef Martin Ackermann (49) zu BLICK. Die Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass die Fallzahlen ab Anfang März wieder steigen werden. Das Modell, das sie dazu entwickelt haben, stimmt bisher beängstigend mit der Realität überein.

Lockerungen sind keine Option für Ackermann

Lockerungen sind für Ackermann daher keine Option. Eher noch weitere Verschärfungen. «Tatsächlich sehen wir, dass es mit einem harten und konsequenten Eingreifen bei hohen Fallzahlen in anderen Ländern gelingt, diese schneller wieder auf ein niedrigeres Niveau zu drücken», sagt er mit Blick auf Grossbritannien.

Verschärfungen auch, weil es weitere beunruhigende Neuigkeiten gibt. Die Brasilien-Mutation kann auch bei Leuten zuschlagen, die bereits mit Corona infiziert waren. Und in Grossbritannien ist eine neue Variante aufgetaucht, die so ansteckend ist wie die britische Mutation und wie der Brasilien-Mutant auch bereits Infizierte nicht verschont.

Was, wenn sie sich irren?

Nur: Die Wissenschaft kann sich irren. So sagte etwa am 26. September Taskforce-Mitglied Marcel Salathé (46) im «Tages-Anzeiger»: «Es sieht gerade wirklich, wirklich gut aus.» Eine Woche später schossen die Fallzahlen in die Höhe.

GLP-Nationalrat Martin Bäumle (56) glaubt denn auch nicht, dass die Briten-Mutation so ansteckend ist wie behauptet. «Ich erwarte, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit 0 bis 20 Prozent höher ist als bei den alten Virensträngen.» Er plädiert daher für Lockerungen – aber erst, wenn die Zahl der täglichen Neuinfektionen unter 500 oder besser 300 liegt.

Die Öffner haben recht

Recht haben auch jene, die schon jetzt nach Lockerungen rufen. Man stelle sich nur vor, dass alle zwei Monate eine neue Mutation auftaucht und niemand weiss, wie gefährlich sie für bereits Geimpfte oder schon einmal Infizierte ist. Wir können unmöglich auf Jahre hinaus im Lockdown bleiben – nur schon, weil die Wohlstandsverluste immens wären. Da geht es nicht um weniger Gewinne für Unternehmen. Sondern ums Überleben der Firmen und viele, viele Arbeitsplätze.

Sollten wir daher nicht lernen, mit dem Virus zu leben? Und nun die Risikogruppen impfen und hoffen, dass sie geschützt sind, und dann wieder langsam und vorsichtig versuchen, zur Normalität zurückzufinden?

Der mögliche Preis für Öffnungen

Doch so, wie die Wissenschaft das Risiko trägt, dass ihre düsteren Prognosen nicht eintreffen und die Pandemie harmloser verläuft – so tragen die Öffner das Risiko, dass die Epidemiologen recht behalten. Der Preis für diese Normalität wären allenfalls viele weitere Corona-Tote. Der Vertrauensverlust in grosse Teile von Wirtschaft und Politik wäre enorm. Und die Kosten durch neue Lockdowns, durch ein ständiges Stop-and-Go, würden sich vervielfachen.

Gibt es keinen Ausweg? Vor allem in Deutschland weibeln Wissenschaftler für die No-Covid-Strategie. Das bedeutet: ein kompletter Lockdown – wie wir ihn in der Schweiz nie hatten. So lange, bis es keine Neuinfektionen mehr gibt. Und dann langsame, durch Tests und Quarantänen kontrollierte Lockerungen. Vorbilder sind Australien, Neuseeland, Taiwan und Finnland, wo diese Strategie tatsächlich genützt hat und die heute praktisch corona-frei sind. Im eng vernetzten Europa würde dies Grenzschliessungen auf lange Zeit bedeuten. Und dass wirklich alle Staaten mitmachen. Was allerdings nicht sehr realistisch ist.

Recht haben alle. Stand heute. Und den Stand morgen kennt niemand.

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