Darum gehts
- Tierschutzorganisation kastriert Katzen in umfunktioniertem Schulhaus in Stein AR
- Eingriffe umfassen Kastration, Impfung und Entwurmung von Freilaufkatzen
- Rund 80 Katzen werden an einem Tag behandelt, zwei Millionen leben in der Schweiz
Mit ruhiger Hand vernäht Tierärztin Luzia Schmid (37) die Wunde am Bauch des schwarzbraunen Katers. Sie trägt eine Stirnlampe, denn die Lichtverhältnisse im umfunktionierten Schulzimmer erschweren die Arbeit. Stimmengewirr erfüllt den Raum, an jedem der fünf «OP-Tische» arbeiten Frauen dicht gedrängt an Katzen.
«So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt Schmid nach dem Eingriff. Seit zehn Jahren hilft sie bei Einsätzen der Tierschutzorganisation mit. Eigentlich wäre die Operation Routine gewesen – bis sie feststellte, dass die Blase des Katers an der Bauchwand verklebt war.
Ein Samstagmorgen in einem Schulhaus in Stein AR: Wo unter der Woche Kinder Mathematik und Deutsch lernen, werden heute Katzen kastriert. Die Tierschutzorganisation «Network for Animal Protection», kurz Netap, hat das Gebäude in ein Feldlazarett verwandelt.
Zwei Millionen Katzen in der Schweiz
Rund 80 Katzen werden an einem Tag geimpft, entwurmt und kastriert. Ziel der Kastrationseinsätze: Das Katzenleid in der Schweiz bekämpfen, indem das ausartende Populationswachstum eingedämmt wird. In der Schweiz leben rund zwei Millionen Katzen.
Tierheime und Veterinärämter stossen an ihre Grenzen. «Jeder hat das Gefühl, er könne Katzen halten, weil es so einfach ist», sagt Geisser, während sie auf der Garderobenbank von ihren Erfahrungen erzählt. Wenn die versteckten Kosten eines Haustiers sichtbar werden – etwa eine Zahn-OP für 1000 Franken – vergehe vielen die Lust. Jede zweite Katze brauche im Laufe ihres Lebens einen Eingriff an den Zähnen. Die ausgesetzten Katzen, die Geisser und ihr Team finden, sind deshalb oft alt und krank.
Auf den Schreibtischen wird operiert
Fahrer bringen die Freilaufkatzen aus der Umgebung zum Schulhaus. Gestaffelt kommen sie in Transportboxen an. «Es braucht unglaublich viel, um diese Feldlazarette aufzubauen und den Katzen gerecht zu werden», sagt Esther Geisser (56), Präsidentin und Gründerin der Organisation. Sie pendelt zwischen den Räumen hin und her, spricht mit Helfern und Tierärztinnen, beantwortet Fragen. Seit 17 Jahren leitet sie den Verein.
Drei Zimmer im Erdgeschoss des Schulhauses wurden in Stationen umfunktioniert. Als Erstes kommen die Tiere in den Betäubungsraum. Dort stehen Transportboxen in allen Grössen und Farben. Unter Tüchern verborgen warten die Appenzeller Katzen, bis die Narkose wirkt. Ein vielstimmiges Miauen erfüllt die stickige Luft.
Im sogenannten Operationssaal dienen mit Plastikfolie überzogene Schreibtische als Behandlungstische. Darauf stehen Medikamente, Ampullen und Spritzen, der Boden ist mit Plastikplanen ausgelegt. Nüchtern tauschen Helfer medizinische Details aus: «Oh, Würmer kommen mir entgegen.»
Abgeschnittene Ohrspitze markiert Kastration
Auf einem anderen Tisch in der Raummitte liegen Tupfer, Gaze, Scheren, Zangen, Handschuhe – und eine umfunktionierte Cola-Flasche für medizinischen Abfall.
«Das Material besorgt Netap selbst», sagt Geisser. Hinter dem Kastrationstag stecke viel Vorbereitung und Logistik. Die Katzen erhalten Nummern nach Herkunftsort, teils mit Malerklebeband direkt auf die Stirn geschrieben. Rund 40 Personen helfen vor Ort: Tierärztinnen, Praxisassistenten, geschulte Helfer sowie Mitglieder des Appenzeller Tierschutzes.
Mit Zange und Schere wird dem schwarzbraunen Kater im OP-Raum schliesslich die Spitze des linken Ohrs entfernt. Es geht schnell, die Wunde blutet nicht. Die markierte Ohrspitze zeigt weltweit an, dass eine Katze kastriert ist. «Sonst ist es mühsam beim Operieren», sagt eine Helferin. «Man sucht nach Organen, die gar nicht mehr da sind.»
Auf einem selbstgebauten Holzkonstrukt liegt ein weisser Kater auf dem Rücken, sein Kopf blutig. Die Tierärztin musste seine Ohrmuschel amputieren. «Hautkrebs», lautet die Diagnose. «Helle Katzen haben das immer mehr», erklärt Geisser.
Zunehmende Sonneneinstrahlung erhöhe das Risiko für helle Tiere. Mit der Amputation lasse sich ihre Lebensdauer verlängern. «Solche Eingriffe machen wir hier auch gleich.»
Streunerkatzen darf das Team nicht behandeln
Die meisten Katzen stammen von Bauernhöfen, Schrebergärten oder verlassenen Industriearealen. Die Bauern und Grundbesitzer melden sich bei der Tierschutzorganisation. Danach werden die Katzen von den Tierschützern eingefangen.
«Die Büsi sind nicht herrenlos, gehören auch nicht Privatpersonen», sagt Geisser. Sie gehören etwa einem Hof, sind aber wilde Katzen. Wild heisst hier: nicht zahm, die Nähe von Menschen nicht gewohnt. Die Katzen werden bei ihrer Ankunft von den Helfern entweder als wild, halbwild oder zahm eingeschätzt.
Streunerkatzen darf das Team aus rechtlichen Gründen nicht behandeln: Sie müssten zuerst zwei Monate untergebracht und öffentlich ausgeschrieben werden, damit sich der Besitzer melden könnte. «Es kann nicht alles auf unserem Buckel ausgetragen werden», sagt Geisser. Katzen monatelang unterzubringen, sei schlicht nicht möglich.
«Persönliches Katastrophen-Highlight»
Der dritte Raum erinnert an eine Sauna. Heizgeräte laufen, Wärmflaschen liegen bereit, Wärmedecken wärmen die Transportboxen von unten. Hier wachen die Tiere langsam aus der Narkose auf.
Von der «Recovery» aus geht es wieder nach Hause – aber nicht für alle. Katzen mit grösseren Eingriffen bleiben einige Tage unter Beobachtung, etwa der schwarzbraune Kater oder die weisse Katze. Manche Besitzer wollen die Tiere nicht zurück; sie werden dann einem Tierheim vermittelt. «Wir sind immer auf der Suche nach Plätzen für wilde Büsi, sie sind Mangelware.»
Während Plätze fehlen, wächst die Population rasant. «Jede Katze hat ihren Ursprung bei einem Halter, der nicht kastrieren wollte», sagt Geisser.
Mittagspause. Auf dem Hof sitzen Tierärztinnen und Helfer in der Sonne auf einem Mürli. Schmid erzählt einer Kollegin vom Fall des schwarzbraunen Katers: «Das ist mein neues, persönliches Katastrophen-Highlight.»
Solche Einsätze, sagt sie, brächten sie regelmässig in unangenehme Situationen. Umso wichtiger seien die anderen als «Cheerleader» an ihrer Seite. Die Pause dauert nicht lange. Im Schulhaus wartet nach dem Mittag noch immer rund die Hälfte der Katzen auf ihren Eingriff.