«Schuld ist das Virus, nicht der Bundesrat»
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Alain Berset im Interview:«Schuld ist das Virus, nicht der Bundesrat»

Alain Berset zieht im grossen Interview Bilanz
«Schuld ist das Virus, nicht der Bundesrat»

Mit BLICK schaut Gesundheitsminister Alain Berset auf ein Jahr Corona-Krise zurück – vom ersten Fall in der Schweiz bis zu den neusten Lockerungsentscheiden. Er verstehe, dass die Menschen genug von der Unsicherheit hätten, sagt er.
Publiziert: 25.02.2021 um 01:29 Uhr
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Aktualisiert: 25.02.2021 um 10:17 Uhr
Er ist der Krisenminister: Bei Alain Berset laufen in der Corona-Krise als Gesundheitsminister viele Fäden zusammen.
Foto: Philippe Rossier
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Interview: Gianna Blum und Sermîn Faki

Es ist schon Routine: Maske, Abstand, Desinfektionsmittel gehören zum Interview wie die Kamera des Fotografen. Es ist noch nicht so lange her, da wäre so ein Gespräch ganz anders verlaufen. Mit BLICK schaut Gesundheitsminister Alain Berset (48, SP) auf ein Jahr Corona-Krise zurück. Und erklärt, warum er trotz der Risiken der neuesten Lockerungen optimistisch in die Zukunft blickt.

BLICK: Herr Berset, vor einer Woche kündigten Sie Öffnungsschritte im Monatsrhythmus an. Weil es Zeit brauche, um die Auswirkungen der Massnahmen zu beurteilen. Nun verkürzen Sie auf drei Wochen. Sind Sie eingeknickt?
Alain Berset: Der Bundesrat betreibt keine Ideologie, sondern versucht, mit den richtigen Massnahmen den bestmöglichen Weg zu beschreiten. Dabei wägt er ab und handelt nach bestem Wissen und Gewissen. Mit dem verkürzten Öffnungsrhythmus berücksichtigt er den breit geäusserten Wunsch, falls möglich etwas schneller zu öffnen. Damit nehmen wir ein gewisses Risiko in Kauf. Wir alle möchten wieder etwas mehr Möglichkeiten haben.

Die Gastronomie ist bitter enttäuscht. Haben Sie Verständnis dafür?
Sehr! Die Wirtinnen und Wirte können – wie viele andere Bereiche – zurzeit nicht oder nicht voll arbeiten. Das ist frustrierend. Schuld daran ist das Virus, nicht der Bundesrat. Die Wirte können nichts dafür, das Virus überträgt sich einfach leichter in geschlossenen Räumen und an Orten, wo sich Menschen ohne Maske treffen. Zum Glück gibt es wirtschaftliche Unterstützung.

Je länger die Krise dauert, umso rauer wird der Ton – besonders Ihnen gegenüber. Die SVP bezeichnet Sie als Diktator. Was sagen Sie dazu?
Es ist schwierig für mich, das zu kommentieren. Das ist nicht unsere politische Kultur. Der Bundesrat arbeitet zu siebt.

Tonangebend im Corona-Dossier dürften aber Sie sein.
Unsere Arbeitsweise ist bekannt. Wenn es um Gesundheitspolitik geht, mache ich dem Bundesrat Vorschläge. Dieser diskutiert und entscheidet dann – und ändert oft, was ich vorgeschlagen habe. Das funktioniert nicht erst seit 2020 so – sondern seit 170 Jahren.

23. Dezember 2020. Eine 90-Jährige im Kanton Luzern erhält als erste Schweizerin den Pfizer/Biontech-Impfstoff: «Wer hätte im August gedacht, dass wir im Dezember schon impfen können! Es braucht noch einige Monate – aber es geht vorwärts und es geht gut.»
Foto: Keystone
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In der ausserordentlichen Lage hat der Bundesrat durchregiert – und ist dafür kritisiert worden. Haben Sie darum im Herbst die Zügel schleifen lassen?
Wir haben nicht «durchregiert». Wir standen immer im Austausch mit Kantonen, Parlament, Parteien und Interessenvertretern. Zum Herbst: Jetzt behaupten viele, man habe die zweite Welle vorhersehen müssen. Natürlich war klar, dass diese kommt. Es waren aber alle Länder überrascht von deren Stärke und dem frühen Zeitpunkt. Als die Lage ausser Kontrolle zu geraten drohte, haben wir reagiert.

Zu spät. Anfang November wurden erstmals über 10’000 Fälle an einem Tag gezählt, reagiert haben Sie erst im Dezember.
Das stimmt so nicht, wir hatten ja bereits im Oktober nationale Verschärfungen beschlossen. Zu Beginn der zweiten Welle war vor allem die Westschweiz betroffen. Die Kantone dort haben weiterführende Massnahmen ergriffen – erfolgreich, die Neuansteckungen gingen zurück. Als der Rückgang im Dezember stockte, hat der Bund wieder übernommen. Auch weil die Festtage vor der Tür standen, was hätte gefährlich werden können. Dazu kamen noch die ansteckenderen Virusvarianten.

Die Lage damals war vergleichbar mit der in Österreich – und Österreich ging Anfang November in den Lockdown. War es nie ein Thema, früher einzugreifen?
Die Kantone haben gehandelt. Man darf nicht vergessen, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen solcher Entscheide brutal sind. Der Bundesrat versucht während dieser ganzen Krise, die Gesamtsituation in der Schweiz im Auge zu behalten. So war es ihm ein grosses Anliegen, die Schulen offen zu halten. Ziel des Bundesrats war immer, Leid zu verhindern, das vom Virus und den nötigen Massnahmen ausgeht.

Contact-Tracing-Datenbank, Impf-Anmeldesystem – so richtig funktioniert hat nichts. Im Grunde genommen sind wir ein Jahr nach der Pandemie immer noch im Blindflug. Wieso kriegt Ihr BAG die Digitalisierung immer noch nicht auf die Reihe?
Das ist ein sehr hartes Urteil. Wir verbessern – wie alle Länder – die Datenlage ständig. Es musste alles neu aufgebaut werden. Das nicht alles von Beginn weg klappt, ist normal. Vieles läuft gut, ist aber kein öffentliches Thema. Eine Impf-Kampagne in diesem Ausmass führen wir zum ersten Mal durch. Auch so breites Testen und Contact Tracing haben wir bis jetzt nie machen müssen! Aber ich gebe Ihnen recht: Unser Land ist punkto Digitalisierung nicht dort, wo es sein sollte – nicht nur im Gesundheitswesen. Ich hoffe, wir lernen auch das aus dieser Krise und machen endlich vorwärts.

Sie haben es jahrelang versäumt, Infrastrukturen aufzubauen, auf die Sie jetzt zurückgreifen könnten.
Seit Anfang März ist der Bundesrat täglich damit beschäftigt, Lösungen für aktuelle Probleme zu finden. Und gleichzeitig vorausschauend zu agieren. So haben wir schon im März Arbeiten für die vermehrten Grippeimpfungen und die Covid-Impfung an die Hand genommen. Hätte man Dinge anders machen können oder sollen? Klar, das ist so. Wir sind nicht unfehlbar! Aber wir geben unser Bestes.

Sie sagen, die Schweiz sei bei den Impfungen gut aufgestellt. Aber seit einigen Wochen kommen keine Lieferungen mehr. Andere Länder sind weiter. Warum warten wir immer noch?
Im Vergleich zu Israel stehen wir weniger gut da, das ist richtig. Aber Israel hat eine besondere Lösung gewählt: Das Land wurde offenbar von Pfizer bevorzugt mit Impfstoff beliefert – im Austausch gegen umfassende Daten der Geimpften. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das für die Schweizerinnen und Schweizer eine Option gewesen wäre.

Alain Berset

Als Gesundheitsminister ist Alain Berset (49) wie kein anderer zum Gesicht der Corona-Krise geworden – auch zu dem der Massnahmen-Kritiker. Der vorherige SP-Ständerat wurde 2012 in die Landesregierung gewählt und ist seither Innenminister. Er lebt in Belfaux FR, ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

Als Gesundheitsminister ist Alain Berset (49) wie kein anderer zum Gesicht der Corona-Krise geworden – auch zu dem der Massnahmen-Kritiker. Der vorherige SP-Ständerat wurde 2012 in die Landesregierung gewählt und ist seither Innenminister. Er lebt in Belfaux FR, ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

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Auch die USA, Grossbritannien und Chile haben schon mehr geimpft.
Das sind nicht so viele. Wir sind sehr gut positioniert! Im letzten Sommer haben wir unter 140 Impf-Projekten die drei herausgefiltert und später gekauft, die sich jetzt als die besten und am schnellsten verfügbaren herausstellen. Wir haben 32 Millionen Dosen gekauft, genug, um alle Menschen in der Schweiz – die das wollen – mit guten, sicheren Impfstoffen zu impfen. Damit gehören wir zu den Besten weltweit! Und wir sind bereits daran, die Impfungen für den kommenden Winter vorzubereiten, falls diese nötig sein sollten.

Es muss aber auch geliefert werden. Halten Sie am Ziel fest, bis Ende Juni alle Impfwilligen zu impfen?
Wenn die Verträge eingehalten werden und die Zulassungen erfolgen können, haben wir genug Dosen, um jeder und jedem bis Ende Juni eine Impfung anzubieten.

Die Kantone müssen von April bis Juni unglaublich viel impfen. Klappt das?
Es ist eine gewaltige logistische Herausforderung. Die Kantone sind an der Arbeit, um ihre Infrastruktur auf die Monate mit besonders vielen Impfdosen auszurichten. Sie wissen um ihre Verantwortung. Überraschungen sind aber nicht auszuschliessen.

Mit Astrazeneca scheint es Probleme zu geben, gleichzeitig hört man Gutes über den russischen Impfstoff Sputnik V. Wäre der was für uns?
Wir prüfen alle Pisten. Voraussetzung ist aber, dass die Hersteller ein Zulassungsgesuch bei Swissmedic stellen.

Haben Sie Ihre zweite Impfdosis schon bekommen? Ein Bundesratskollege von Ihnen, Ueli Maurer, hat ja darauf verzichtet.
Ich habe mir diese Frage gar nicht gestellt. Wenn es heisst, man braucht bei dieser Impfung zwei Dosen, dann richte ich mich danach.

Wir haben über die unterschätzte zweite Welle gesprochen. Woher wissen Sie, dass Sie die Situation jetzt nicht auch unterschätzen?
Wir wissen es nicht. In einer Pandemie gibt es keine Gewissheiten. Ich verstehe, dass die Leute genug haben von der Unsicherheit. Aber wir können es nicht ändern. Der Bundesrat ist überzeugt, dass es richtig ist, jetzt zu öffnen. Schrittweise, vorsichtig, kontrolliert.

Hätten Sie den Mut, bei Bedarf auch wieder zu verschärfen?
Wenn sich die Lage drastisch verschlechtert, wird der Bundesrat das neu beurteilen und entsprechend reagieren. Das gilt auch für den Fall, dass sich die Situation schneller bessert. Dann öffnen wir rascher.

Glauben Sie ernsthaft, dass Sie Mehrheiten finden, um angekündigte Lockerungen wieder zurückzunehmen?
Es geht nicht darum, wer welche Mehrheiten holt. Sondern darum, vernünftig zu entscheiden, was das Beste für das Land ist. Die Mitglieder des Bundesrats bewältigen diese Krise gemeinsam, auch wenn gewisse Kreise das nicht wahrhaben wollen. Nochmals: Ich glaube, dass die Aussichten nicht schlecht sind, trotz der neuen Virusvarianten und der nach wie vor hohen Fallzahlen. Wir haben die Impfung, wir testen viel mehr, und in wenigen Wochen wird uns das warme Wetter hoffentlich auch noch helfen. Und wenn weiterhin alle mitmachen und die Massnahmen umsetzen, schaffen wir das – gemeinsam!

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