Herr Lang, man beschreibt Sie als sehr netten Menschen.
Jo Lang: Wer sagt das?
Die Menschen, die Sie kennen.
Auf positive Rückmeldungen zu reagieren, ist immer schwierig.
Der Umgangston in der Politik ist rau. Warum setzen Sie auf Nettigkeit?
Ich weiss, dass meine Inhalte für viele Leute nicht leicht verdaulich sind. Das Dümmste wäre, diese harten Inhalte auch noch hart zu vertreten. Ich stehe zu meiner Überzeugung. Aber das war nie Anlass, anderen Leuten gegenüber unflätig zu sein.
Sie werden als nett beschrieben. Wie beschreiben Sie den Zustand der Demokratie hierzulande?
Wir haben grosse demokratische Errungenschaften, die vorbildlich sind für andere Länder. Wir haben die Religionskonflikte überwunden. Vorbildlich ist auch, dass Bürger nicht nur wählen, sondern auch mitreden können. Viele Demokratien in Europa würden besser dastehen, wenn die Bürger mitreden könnten. Der grösste Schwachpunkt ist, dass ein Viertel der Erwachsenen weder wählen noch stimmen kann: die Ausländer.
Wie steht die Schweiz da?
Seit der zweiten Hälfte 1992 gab es eine Dominanz der SVP, des Nationalkonservatismus. Die haben sehr häufig das Agenda-Setting bestimmt. Das ist durch die Frauen- und Klimabewegung gebrochen worden. Die Corona-Krise hat die Entwicklung von 2019 verstärkt. Vor allem das Care-Bewusstsein und die Stellung der Frau.
Unter die Räder kamen während Corona aber vor allem die Frauen.
Der Care-Bereich erwies sich als vitalster Teil einer modernen Gesellschaft und war damit extrem gefordert. Das könnte demokratiepolitisch zur Folge haben, dass es zu einer Stärkung des Care-Bereichs und damit der Frauen kommt.
Eine grundlegende Veränderung?
Der Typus der 90er-Jahre war männlich und Finanzdienstleister, heute ist er weiblich und arbeitet im Spital.
Sie prophezeien in Ihrem neuen Buch «Demokratie in der Schweiz» den Abstieg der SVP. Ist das nicht Wunschdenken eines linken alt Nationalrats?
Der Aufstieg der Frauen- und Klimabewegung hatte den Abstieg der SVP zur Folge. Ein Grund dafür ist, dass die Frauenfrage sowie die Klima- und die Corona-Krise globaler Natur sind.
Und da kann die SVP nicht mitreden?
Die SVP kommt in ihrem Innersten in einen Widerspruch.
Zum Beispiel?
Die SVP hat die geistige Landesverteidigung weitergeführt, und da spielen die Alpen eine wichtige Rolle. Aber was richtet der Klimawandel in den Alpen an? Wenn die SVP sagt, es ist uns gleichgültig, wenn die Gletscher schmelzen, die Alpen zerfallen und die Menschen in den Alpentälern immer mehr Probleme haben, dann lebt sie in einem Widerspruch. Daran zeigt sich: Ihr Alpenmythos hat wenig zu tun mit den Alpen als geologischem Gebilde. Es ist ein ideologisches Gebilde im Kopf.
Grenzen sind wichtig geworden. Ein Thema der Rechten.
Es gab eine funktionelle Renationalisierung. Schlicht deshalb, weil nur die Nationalstaaten die Mittel hatten, auf eine Krise wie diese zu reagieren.
In den Köpfen wuchs das nationalistische Denken nicht?
Die Vorstellung, dass eine funktionelle Renationalisierung wie bei Corona zu einer ideellen Renationalisierung führt, ist falsch. Die Globalisierung war eine funktionale Ent-nationalisierung. Und es wuchs der Nationalismus. Warum sollte das Gegenteil die gleiche Folge haben? Einen solchen Automatismus gibt es nicht.
In diesem Jahr hat der Bundesrat wegen Corona zum Notrecht gegriffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die Rückkehr zur direkten Demokratie erst 1952 per Volksinitiative. Auch die Musterdemokratie Schweiz ist anfällig für Machtmissbrauch.
Eine Musterdemokratie waren wir nie. In den drei Jahrzehnten nach 1874 waren wir die fortschrittlichste Demokratie. Dann hatte die Schweiz sehr autoritäre Tendenzen bis Ende des Kalten Krieges.
Die SP war damals dafür, das Notrecht weiterzuführen. Ultrarechte haben das Ende dieses Vollmachtregimes angestossen.
Es ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Linken. Nicht nur dass sie den Kampf nicht führten, sondern dass sie sogar dagegen waren, dass man das Notrecht abschafft. Aber am heftigsten für das Vollmachtregime haben sich die Bauern eingesetzt.
Warum?
Weil die Bauern profitierten. Ihr Einfluss im Bundesrat war stärker als in der Bevölkerung. Sie hatten Angst, wenn die Vollmachten fallen, werden sie ihre Sachen nicht mehr so einfach durchbringen.
Wer profitiert sonst noch vom Notrecht?
Beim Notrecht entsteht ein Machtvakuum. Das Vakuum wird sehr schnell durch die Wirtschaftsverbände gefüllt. Das geschah im Ersten Weltkrieg massiv – damit beginnt die Macht dieser Verbände. Und im Zweiten Weltkrieg hatten die Wirtschaftsverbände zusammen mit den Banken eine Wahnsinnsmacht. Und das hat sich auch jetzt wieder gezeigt.
Woran denken Sie?
Der Bundesrat sagte beispielsweise, dass Angehörige von Risikogruppen der Arbeit fernbleiben dürfen. Plötzlich wurde das rückgängig gemacht. Das war klar der Einfluss der Wirtschaftsverbände.
War der Abbruch der Session richtig?
Dass sich das Parlament sang- und klanglos zurückgezogen hat, fand ich demokratiepolitisch am fragwürdigsten. Das gab es weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg.
Was ist da passiert?
Es gab berechtigte Sorgen bezüglich der Gesundheit. Aber die Fraktionschefs hatten nicht die Legitimität, einen Abbruch zu beschliessen.
Was wäre ein besseres Vorgehen gewesen?
Es hätte Möglichkeiten gegeben, sich im Bundeshaus so zu verteilen, um zumindest darüber zu diskutieren, wie man jetzt weiter vorgehen will. Man hätte die Session kurz unterbrechen können. Aber das Zeichen des Abbruchs war ganz schlecht.
Wie beurteilen Sie den Bundesrat nach dem Lockdown.
Weniger positiv.
Warum?
Es entwickelte sich ein Tohuwabohu in den Massnahmen und in der Kommunikation. Auf Bundesebene erwies sich das BAG als wenig krisenfest und unsicher gegenüber den Kantonen. Dies war umso schlimmer, als die Kantone nicht nur unter sich, sondern auch in sich gespalten waren. So war die Konferenz der Gesundheitsdirektoren gegen Grossveranstaltungen und die der Volkswirtschaftsdirektoren dafür. In gewissen Kantonen sind gewisse Sonderinteressen besonders stark
Fordern Sie gerade die Rückkehr zum Notrecht?
Nein. Der Bundesrat hat erkannt, dass er auch so verbindlicher auftreten kann. Es gibt eine Frage, die zu wenig gestellt wird: Welche Rolle spielt die Bundesversammlung? Mindestens ein starkes Zeichen für eine stärkere Harmonisierung könnte sie setzen. Bis heute haben die Leute gut mitgemacht. Aber wenn sie zu grosse Unterschiede unter den Kantonen erleben, bröckelt die Akzeptanz für die Einschränkungen.
Eine Wirtschaftskrise ist unabwendbar. Eine Bedrohung für die Demokratie?
Das ist meine grösste Sorge.
Weil Wirtschaftskrisen schlecht sind für Demokratien?
Nein. Wirtschaftskrisen sind nicht per se schlecht für die Demokratie. Die Schweizer Demokratie war nie so schwach wie in der Hochkonjunktur. Während der Wirtschaftskrise in den 30er-Jahren wurde die Demokratie belebt. Diesen Automatismus gibts auch nicht.
Was macht Ihnen Sorgen?
In einer Wirtschaftskrise werden die Verteilkämpfe schärfer. Ich fürchte mich davor, dass die Wirtschaftsverbände den Einfluss, den sie wegen des Notrechts errungen haben, nutzen, um ihre Interessen auf Kosten der sozial Schwächeren durchzusetzen.
Es gibt Menschen, die glauben, dass Bill Gates an allem schuld ist. Fake und Fakt werden zunehmend ebenbürtig. Wir verlieren als Gesellschaft die gemeinsame Realität. Das ist eine Gefahr für die Demokratie.
Es wäre eine Gefahr, wenn die Vermischung von Fakt und Fake verbreitet wäre. Was sich in Deutschland bei diesen Corona-Demonstrationen zeigt, ist eine Folge davon, dass es keine direkte Demokratie gibt. In der Schweiz zu behaupten, dass wir an der Nase herumgeführt werden von irgendwelchen Mächten, und dann flattern zugleich die Abstimmungsunterlagen ins Haus, und jeder kann selber über Sachverhalte entscheiden, widerspricht sich. Die direkte Demokratie ist ein Schutz.
Aber wir leben doch zusehends in unterschiedlichen Realitäten.
Früher hatten wir das Problem, dass die Leute eher kritiklos allen Vorgaben folgten. Im 19. Jahrhundert war die Klerus-Gläubigkeit so stark, dass viele Leute alles machten, was die Kirche sagte. Darum hatte die Juden-Emanzipation so lange keine Chance. Heute denken die Leute selbständiger.
Also keine Gefahr.
Gefährlich wird es erst, wenn sich ein mächtiger Faktor diesen Verschwörungstheorien anschliesst.
Eine Person?
Oder eine Partei. Wenn beispielsweise die SVP geschlossen darauf abfahren würde. Das würde zwar die SVP schwächen, aber dieser Bewegung Gewicht geben. Die Tatsache, dass Geld in Abstimmungen und Wahlkämpfen eine so grosse Rolle spielt, ist aus meiner Sicht das grössere Problem.
Fassen wir zusammen: Sie sagen, der Zustand der Demokratie ist herausfordernd, aber nicht besorgniserregend. Richtig?
Genau. Es gibt grosse Herausforderungen. Der Nationalismus, die Macht der Märkte, die Aufweichung von Fakt und Fake. Diese Kräfte sind aber zu wenig stark, um die Demokratie auszuhebeln. Hingegen sind die Kräfte, die uns weiterbringen, stärker geworden. Ich setze grosse Hoffnung in die Frauen- und Klimabewegung sowie das gewachsene Care-Bewusstsein.
Josef Lang: Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart. Hier und Jetzt Verlag.
Jo Lang (66) ist Historiker und Politiker. Von 1982 bis 2011 war er Zuger Stadt-, Kantons- und Bundesparlamentarier. Er promovierte an der Universität Zürich und ist Mitgründer der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). 1981 wurde gegen ihn wegen seiner Kritik am Finanzplatz Zug ein Berufsverbot an der Kantonsschule Zug ausgesprochen. 1996 entschuldigte sich die Zuger Regierung dafür. Sein neustes Buch «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart» ist im Hier+Jetzt-Verlag erschienen. Lang ist verheiratet und lebt heute in Bern.
Jo Lang (66) ist Historiker und Politiker. Von 1982 bis 2011 war er Zuger Stadt-, Kantons- und Bundesparlamentarier. Er promovierte an der Universität Zürich und ist Mitgründer der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). 1981 wurde gegen ihn wegen seiner Kritik am Finanzplatz Zug ein Berufsverbot an der Kantonsschule Zug ausgesprochen. 1996 entschuldigte sich die Zuger Regierung dafür. Sein neustes Buch «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart» ist im Hier+Jetzt-Verlag erschienen. Lang ist verheiratet und lebt heute in Bern.