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Grenzwerte anheben genügt nicht länger
Altlasten verschmutzen unser Wasser

Noch immer kommen Pestizide wie das verbotene Atrazin aus der Leitung. Das liegt auch an einer falschen Sanierungspolitik.
Publiziert: 14.09.2019 um 23:48 Uhr
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Aktualisiert: 17.09.2019 um 16:49 Uhr
Der Basler Martin Forter gilt als der Altlastenexperte schlechthin und kritisiert die Anhebung von Grenzwerten bei der Sanierung von Deponien.
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Cyrill Pinto

Sie heissen Atrazin oder Oxadixyl – Pestizide, die lange in der Landwirtschaft eingesetzt wurden und heute wegen Krebsgefahr verboten sind.

Dennoch sind die riskanten Substanzen allgegenwärtig. Ein Mitte August veröffentlichter Bericht des Bundesamtes für Umwelt (Bafu) über den Zustand des Schweizer Grundwassers zeigt, dass an mehr als der Hälfte der Messstellen synthetische Stoffe festgestellt wurden, vor allem Pestizide und deren Abbauprodukte.

Weil ein Grossteil des Schweizer Trinkwassers aus dem Grundwasser stammt, haben Kantonschemiker nun dessen Qualität untersucht. Fazit ihres am Donnerstag vorgestellten Berichts: Mehr als die Hälfte der 296 untersuchten Proben wiesen Rückstände von Pestiziden auf, zwölf überschritten den gesetzlichen Grenzwert. Das heisst: Rund 170'000 Menschen haben Wasser getrunken, das die ­lebensmittelrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt. In den nächsten Tagen erhalten sie Post von ihren Versorgern. Das kontaminierte Wasser wird verdünnt, oder die betroffenen Brunnen werden stillgelegt.

In Basel ist die Lage am gravierendsten

Als Verschmutzer stand bislang vor allem die Landwirtschaft im Verdacht. Nicht weniger Gefahr jedoch geht von Deponien und Altlasten aus – etwa Lagerstätten für Reinigungs- und Lösungsmittel oder alten Fabriken. Das Bafu schreibt: «Hier ­besteht zusätzlicher Handlungsbedarf.» Und: Es brauche «grosse Anstrengungen», um die anstehenden, sehr teuren Sanierungen zu meistern.

Am gravierendsten ist die Lage rund um Basel, Hauptstadt der chemischen Industrie, zum Beispiel am Ort der Brandkatastrophe von Schweizerhalle. 1986 brannten hier 1300 Tonnen Chemikalien. Heute gilt das Gelände offiziell als Unfallstandort mit Überwachungsbedarf. Denn das Gift gelangte nicht nur in den Rhein, sondern auch in den Boden: 8,7 Tonnen Pestizide und 134 Kilo hochgiftiges Quecksilber. Obwohl das Erdreich bis zu einer Tiefe von elf Metern ausgehoben und gewaschen sowie mit einer Betonplatte versiegelt wurde, messen die Behörden an der 200 Meter entfernten Grundwasserfassung für die Gemeinde Muttenz BL noch immer signifikante Spuren von Pestiziden.

Das baselländische Umweltamt schwankt zwischen Information und Beruhigung. Einerseits hält es fest: «Im Grundwasser des Muttenzer Hards ist eine Belastung mit Oxadixyl festzustellen.» Andererseits betont die Behörde: Grenzwerte würden selbstverständlich keine überschritten.

Kein Grund zur Sorge also?

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Grenzwert um den Faktor 40'000 erhöht

Warum im Muttenzer Grundwasser die Grenzwerte eingehalten werden, erklärt Altlasten­experte Martin Forter, Geschäftsführer der Vereinigung Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz. Das Bafu habe einfach den Grenzwert für Pestizide bei Altlasten erhöht: Plötzlich durften 40'000-mal mehr Oxadixyl und 10 '000-mal mehr Atrazin versickern.

Wie lässt sich eine solche massive Aufweichung des Grundwasserschutzes erklären? Die offizielle Begründung lautet so: Mitte der 1980er-Jahre war der Grenzwert für Pestizide gemäss dem Vorsorgeprinzip auf 0,1 Mikrogramm pro Liter Grundwasser festgelegt worden. Dieser Grenzwert sei zu hoch, fanden Experten im Auftrag des Bundes, als sie 2013 neue Höchstwerte festlegten. Die alten berücksichtigten «schädliche Langzeitwirkungen» zu stark, die bisher nur vermutet, aber nicht bewiesen seien.

Forter kritisiert dieses Verfahren hart: Die Anhebung der Grenzwerte sei unter anderem wissenschaftlich begründet, dabei sei aber das Vorsorgeprinzip ausgehebelt worden. Positiver Nebeneffekt für die Chemieindustrie: Altlasten wie Schweizerhalle mussten in der Folge kein zweites Mal teuer saniert werden.

Strengere Reglemente für langlebige Stoffe gefordert

Es gibt aber auch gegenläufige Entwicklungen. Aktuelles Beispiel: In ihrer neuen Studie wiesen die Kantonschemiker das Fungizid Chlorothalonil in hohen Konzentrationen im Trinkwasser nach. Bisher aber gab es für diesen Stoff überhaupt keinen Höchstwert. Aufgrund einer neuen toxikologischen Beurteilung gelten jetzt nur noch 0,1 Mikrogramm pro Liter als tolerierbar.

Der Verband der Schweizer Kantonschemiker fordert, dass langlebige Stoffe strenger reglementiert werden. Kurt Seiler, Kantonschemiker des Kantons Schaffhausen und der beiden Appenzell: «Die Toxikologie entwickelt sich laufend weiter. Und so können langlebige Stoffe zum Problem werden, das man so schnell nicht wieder loswird.»

In jedem Fall ist klar: Beim Schutz des Schweizer Trinkwassers herrscht akuter Vollzugsnotstand, weil Politik und Behörden die Sanierung gefährlicher Deponien aus Kostengründen jahrelang gescheut haben.

Aufbereitung des Wassers zu teuer

Solche nie oder nur unvollständig sanierten Altlasten bereiten auch dem Verband der Schweizer Wasserversorger Kopfzerbrechen. Mit Nachdruck weisen die Versorger darauf hin, wie wichtig es sei zu verhindern, dass Giftstoffe überhaupt ins Grundwasser gelangen.

Eine Aufbereitung des belasteten Wassers sei nicht möglich respektive sehr teuer, schreiben die Wasserversorger in einer Mitteilung. «Dies stellt die Gemeinden vor enorme logistische und finanzielle Prob­leme.» Zum Beispiel in Muttenz: Hier musste die Gemeinde ein aufwendiges, dreistufiges und teures System zur Trinkwasseraufbereitung einrichten.

Sonst wäre das Wasser aus dem Muttenzer Hard noch für lange Zeit ungeniessbar.

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