1968 flüchtete Vaclav Günter (75) aus Prag
«Ich höre die Schüsse heute noch»

Vor genau 50 Jahren sah Vaclav Günter aus Baden AG, wie die Sowjet-Panzer vor seinem Fenster in Prag einfuhren. Zwei Tage später flüchtete er mit dem Zug. In der Schweiz baute er sich ein neues Leben auf. Seine Dankbarkeit ist gross.
Publiziert: 21.08.2018 um 15:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 20:33 Uhr
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Seit 50 Jahren in der Schweiz: Vaclav und Michaela Günter.
Foto: Thomas Meier
Guido Felder

An den 21. August 1968 denkt Vaclav Günter (75) mit Schaudern zurück. Am frühen Morgen weckten ihn der Lärm von schweren Sowjet-Panzern, die in Prag einfuhren, um die kommunistische Ordnung wiederherzustellen. Günter, der heute in Baden AG lebt, studierte damals Industrie-Ökonomie und war eben vom Besuch eines Freundes zurückgekommen. Er beobachtete die Invasion von seinem Fenster aus. «Die Panzer machten auf dem Kopfsteinpflaster einen höllischen Lärm. Auch Flugzeuge waren zu hören.»

Es war eingetroffen, was in der Luft lag und was den Studenten an Protestveranstaltungen gesagt worden war: Die Sowjets kommen! Günter hatte keine Angst, dafür war er zu wütend. Auf Russisch redete er auf die Panzerfahrer ein. «Sie waren so jung und hatten keine Ahnung davon, was sie hier sollten und wo sie überhaupt waren», sagt Günter.

Vater: «Bleib, wenn du etwas findest!»

Vaclav Günter hatte Glück. Unabhängig vom Säbelrasseln der Sowjets, hatte er sich vorgängig Ausreisepapiere beschafft, um seine Schwester und deren Neugeborenes zurück in die Schweiz zu begleiten. «Meine Schwester wohnte mit ihrem Mann, einem Österreicher, in Baden, wollte aber in Prag gebären.»

Mit diesen Ausweisen konnte Günter, wie geplant, am 23. August 1968 den Zug Richtung Wien und Zürich besteigen. «Ich war fest davon überzeugt, dass ich nach zwei Wochen wieder zurückkommen würde und hatte nur gerade zwei Hemden und Unterhosen im Gepäck.» Sein Vater allerdings wusste, dass nichts mehr sein würde wie früher. Günter: «Er sagte mir: ‹Es sieht schlecht aus. Bleib, wenn du etwas findest!›»

Nach wenigen Wochen an der Arbeit

Als die gesamte Regierung verhaftet und nach Moskau gebracht wurde, entschied sich Günter, in der Schweiz um Asyl zu bitten und Arbeit zu suchen. Bereits Ende September wurde er von der damaligen Brown, Boveri & Cie. als Techniker in der Industrieabteilung angestellt, wo er die ersten Grossrechner betreute und Verkabelungen für Lokomotiven entwickelte.

Im Dezember 1968 reiste seine Freundin Michaela (heute 71) nach – ein Jahr später heirateten sie. Günter blieb seinem Arbeitgeber rund 20 Jahre bis zur Fusionierung zur ABB treu. Anschliessend war er weitere 20 Jahre bei einer EDV-Firma in Wettingen AG angestellt.

Fähnchen und Geld zur Begrüssung

Vaclav Günter erzählt von der Schweizer Willkommenskultur. Als er in Baden angekommen sei, habe er Kinder gesehen, die an ihren Velos tschechoslowakische Fähnchen montiert hatten. Von der Stadt Baden habe er ein zinsloses Darlehen von 3000 Franken erhalten, das er nach nur einem Jahr wieder zurückzahlen konnte.

Erst nach der Wende von 1989 kehrte Günter in seine alte Heimat zurück. Die zweijährige Haftstrafe, die er und seine Frau wegen Republikflucht kassiert hatten, war inzwischen aufgehoben worden. «Anfänglich war ich sehr enttäuscht: Die schon früher schlechte Bausubstanz der Gebäude war inzwischen miserabel. Gegenüber unseren Kindern hatten wir immer von unserer Heimat geschwärmt. Nun erlebten sie einen Kulturschock.»

Der Schweiz dankbar

Inzwischen sind die Günters dreifache Grosseltern. Vaclav Günter – der Nachname stammt aus seiner alten Heimat – engagiert sich im Verband der Vereine der Tschechen und Slowaken in der Schweiz, der Anfang Oktober einen Gedenkanlass zur Niederschlagung organisiert. «Ich höre die Schüsse heute noch. Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern, was an diesem Tag passiert ist», sagt Günter.

Und er ergänzt: «Es ist ebenso wichtig, dass wir uns bewusst sind, was die Schweiz für uns gemacht hat.»

Schweizer Botschaft setzt Hilferuf ab

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Am Morgen des 21. August 1968 donnerten Sowjet-Panzer durch Prags Strassen.
Foto: Getty

Betroffen vom Einmarsch war auch die Schweizer Botschaft. Samuel Campiche (1914–2004) setzte am 21. August um 11.45 Uhr einen Hilferuf nach Bern ab: «Gerieten unter sowjetisches Feuer. Schüsse wurden auf Botschaftsgebäude gerichtet.» Auf wiederholte Proteste der Schweizer behauptete Moskau, nicht eigene Truppen, sondern «Provokateure» hätten geschossen. Der damalige SP-Bundespräsident Willy Spühler (1902–1990) entgegnete selbstbewusst, es handle sich um eine Okkupation und das Schweizer Volk stünde auf der Seite der Tschechen.

Tatsächlich solidarisierten sich die Schweizer mit der CSSR. Die sowjetische Handelsbank und die Aeroflot-Filiale in Zürich wurden verwüstet, die Piloten eines Linienflugzeugs aus Moskau beschimpft. Der Bundesrat wehrte sich aber gegen Forderungen, die Beziehungen zu Staaten des Warschauer Pakts zu kappen. Spühler rief zur «Ruhe und Überlegtheit» auf.

Wichtige Rolle der Schweiz

Die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) hat zu diesem Thema auf dodis.ch ein E-Dossier zusammengestellt, auf dem Korrespondenzen und Bilder aus jener Zeit zu sehen sind. Thomas Bürgisser, Leiter Wissenschaftliche Kommunikation und Vermittlung bei Dodis, staunt, wie gross die Solidarität der Schweiz war. Bis 1970 erhielten rund 11’000 Tschechoslowaken politisches Asyl. Bürgisser: «Mit ihrer Willkommenskultur wurde die Schweiz zum wichtigsten Aufnahmeland in Europa.»

Auch Belinda Bencics Papa flüchtete

Der 21. August 1968 sollte für das Schweizer Tennis bedeutende Folgen haben.

Belinda Bencic Grosseltern flüchteten 1968 aus der damaligen Tschechoslowakei. In Uzwil SG finden sie ein neues Zuhause. Belindas Vater Ivan ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt. Später macht er in der Schweiz eine Eishockey-Karriere und heiratet die elf Jahre jüngere Dana, eine Slowakin. Kurz bevor 1997 in Flawil SG die Tochter zur Welt kommt – Belinda.

Lange vor ihr schwang Jakob Hlasek das Racket für die Schweiz. Er kam 1964 in Prag zur Welt und flüchtete als Vierjähriger mit seinen Eltern in die Schweiz. Die Familie Hlasek wohnte zunächst in Rapperswil SG, später in Zürich. «Dank der grossen Anteilnahme der Bevölkerung waren wir schnell integriert», erzählte er einst in der SI.

Auch Adolf «Seppli» Kacovsky, der erste Trainer von Roger Federer, flüchtete 1969 aus der Tschechoslowakei vor den russischen Panzern.

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Prager Frühling

Heute Dienstag gedenken die Tschechen und Slowaken eines Ereignisses, das in ihrer Seele eine tiefe Narbe hinterlassen hat. In der Nacht auf den 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Pakts mit einer halben Million Soldaten in die Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei (CSSR) ein. Es war das Ende des Prager Frühlings, der für Streben nach mehr Liberalismus und Demokratie stand. Als Hoffnungsträger galt Kommunistenchef Alexander Dubcek (1921–1992), der einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» propagierte. Beim Einmarsch starben 98 Tschechoslowaken sowie rund 50 Soldaten der Invasionstruppen.
Mehr Hintergrundinfo zur Geschichte des Prager Frühlings gibts hier.

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