Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Wie man eine Brücke trotz Volks-Nein bauen kann

Der deutsche Kabarettist Dieter Hildebrandt (1927–2013) fragte einmal: «Was ist ein Volksvertreter? Ein Versicherungsvertreter verkauft Versicherungen – und ein Volksvertreter?» Deshalb plädieren die Autoren dieses Buchs für mehr direkte Demokratie.
Publiziert: 24.01.2023 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 22.01.2023 um 13:05 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Über tausend Wahl- und Abstimmungszettel habe ich bis heute ausgefüllt: Das schrieb ich vor gut einem Jahr an dieser Stelle und verwies darauf, seit Erreichen des Erwachsenenalters noch keinen Urnengang in der Schweiz verpasst zu haben. Mal gehörte ich zur Gewinnerseite, mal zur Minderheitsmeinung. Mal konnte ich direkt meine Ansicht zur Finanzierung eines Bauvorhabens kundtun, mal gab ich meine Wahlstimme einer Partei, auf dass sie indirekt meine Interessen im Parlament vertrete.

«Genauso wie man sich vertreten lässt, wenn man einen Schneider oder eine Fabrik mit der Produktion eines Hemdes oder einer Hose beauftragt», zitiert der schweizerisch-britische Historiker Oliver Zimmer (59) den französischen Demokratie-Erfinder Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) im soeben erschienenen neuen Buch. Das hat Zimmer zusammen mit dem Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Bruno S. Frey (81) verfasst. Und beide plädieren sie für mehr direkte Demokratie.

Mehr jedenfalls, als sie dem Franzosen mit seiner Repräsentativdemokratie vorschwebt: «Auch wenn Sieyès niemals müde wird, die arbeitende Bevölkerung als nationalen Souverän zu glorifizieren und den Adel als Blutsauger zu verunglimpfen», schreibt Zimmer, «so zögert er doch genauso wenig, die Ausführung des nationalen Willens einer neuen Aristokratie der Wissenden und Weisen anzuvertrauen.» Und diese Ansicht halte sich bis heute: So besässen 82 Prozent von den 2019 gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags einen Hochschulabschluss – in der Gesamtbevölkerung seien es lediglich 18 Prozent.

Hort der Demokratie: Der Nationalratssaal im Berner Bundeshaus.
Foto: Keystone

Die dort oben, wir da unten: Die Abgehobenheit der Politiker vom gemeinen Volk schlage heute vielerorts in ein Desinteresse des Volkes an der Politik um. Dem wollen Zimmer und Frey mit ein paar Rezepten für mehr Einbezug der Bevölkerung entgegenwirken. «Dezentralisierte Länder, in denen Gemeinden, Gliedstaaten und die Zentralregierung für das gleiche Territorium zuständig sind, stellen bereits eine Entwicklung in eine sinnvolle Richtung dar», schreiben die beiden Akademiker.

Im Sprengen nationaler Grenzen sieht Glücksforscher Frey mancherorts das Heil der Demokratie und nennt das Beispiel der Bodenseeregion: Konstanz (D) und Kreuzlingen TG sind Nachbargemeinden, doch zwischen ihnen ist eine Landesgrenze, und ihre Hauptstädte liegen 619 Kilometer (Berlin) bzw. 152 Kilometer (Bern) Luftlinie entfernt. Deshalb fordert Frey für dieses Gebiet eine demokratische Einheit, die länderübergreifend Entscheide zu Wasser, Verkehr und Tourismus treffen kann.

Andererseits will Frey Abstimmungsergebnisse ganz genau einhalten, etwa wenn es um ein 100-Millionen-Euro-Projekt einer neuen Brücke geht. Sein Vorschlag: «Wenn zum Beispiel 45 Prozent der Wahlberechtigten dem Brückenbau zustimmen, können 45 Prozent des Kredits verwendet werden.» Es könne somit eine einfachere Brücke errichtet werden, die nur 45 Millionen Euro koste. Eines ist sicher: Dieses Buch sorgt für Gesprächsstoff – und das beabsichtigen die Autoren.

Bruno S. Frey/Oliver Zimmer, «Mehr Demokratie wagen – für eine Teilhabe aller», Aufbau

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