Die Begeisterung war gross und ungehemmt: «Oh, toll, wie hast du das geschafft?» Ich selbst bin da vorsichtig geworden, nachdem ich einmal alte Freunde auf diese Art blossgestellt hatte. Sie hatten nämlich nicht freiwillig abgenommen: Sie waren beide arbeitslos geworden, hatten ihre Wohnung verloren und lebten nun in einem Wochenhotel. Die Miete musste jeweils im Voraus bezahlt werden, und da reichte es nicht jeden Tag fürs Essen.
«Fasten ist eine spirituelle Übung», erklärte mein Freund tapfer. «Und regt den Geist an. Intervallfasten.» Ich nickte, zutiefst beschämt. Den Begriff hatte ich schon gehört. Die hiesigen Internetmilliardäre brüsteten sich gern damit, mit dieser Methode ihre Produktivität anzukurbeln. Seither hüte ich mich, körperliche Veränderungen zu kommentieren.
Auch Victor hörte die Frage nicht besonders gern, auch wenn sie gut gemeint war. Er atmete einmal ein und einmal aus, bevor er antwortete: «Tja, erstaunlich, was ein regelmässiger Herzschlag bewirken kann …» Das Klischee vom stoischen Indianer ist, wie alle Klischees, vielleicht zu oft wiederholt, aber trotzdem wahr. Es gehört zu seiner Kultur, sich nicht aufzuregen, die Stimme nicht zu erheben und vor allem, das Anspruchsvollste überhaupt: nichts persönlich zu nehmen. Meine Kultur kennt solche Einschränkungen nicht, und so rege ich mich oft an seiner Stelle auf. Ich erinnere mich an eine Party vor der Pandemie und auch vor Victors diversen Herzoperationen, als ihn eine etwas angeheiterte Dame mit spitzem Zeigefinger in den von Medikamenten aufgeschwemmten Bauch pikste. «Na, Victor, du lässt es dir aber auch gut gehen!», krähte sie. Und zu mir: «Du hättest ihn mal früher sehen sollen, ein junger Gott! Und so schlank! Was ist passiert, Victor?» Victor atmete ein und aus, ich explodierte: «Was passiert ist? Nierenversagen, Herzkrankheit, Dialyse, Transplantation, Koma, Herzinfarkt, Schlaganfall, Hirnblutung, ach ja, und dann wurde er auf dem Fussgängerstreifen über den Haufen gefahren. Und was ist deine Entschuldigung?» Nicht gerade nett, ich gebe es zu. Aber ich war schon stolz auf mich, dass ich sie nicht zurückgepikst hatte.
Jedes Mal, wenn ich in der Schweiz ankomme, stelle ich mit Bewunderung fest, wie ansprechend das Strassenbild sich gestaltet, wie gut die Menschen aussehen, gesund, entspannt und in Form (wenn auch oft nicht gerade gut gelaunt). Doch meine Bewunderung gilt nicht der Disziplin und Vernunft der Passantinnen, sondern dem Land, dem System. So sehen Menschen aus, die regelmässig zum Arzt und zur Zahnreinigung gehen, die mehr als eine Woche Ferien und geregelte Arbeitszeiten haben, die Mittagspausen haben, sie sie an der frischen Luft verbringen können, die Zugang zu gesunden Lebensmitteln haben und sich diese auch leisten können. Natürlich muss man das alles auch nutzen. Doch das ist ein Privileg und keine Leistung.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde es wahnsinnig wichtig, seine Gesundheit zu schützen und zu fördern. Im Rahmen meiner Möglichkeiten bemühe ich mich durchaus auch darum. Ich bewundere alle, die auf hohe Berge klettern, in kalte Gewässer tauchen, die lange Strecken im Laufschritt zurücklegen. Aber noch mehr bewundere ich die, die mit Würde in einem versehrten und manchmal fast bis zur Unkenntlichkeit veränderten Körper leben, einem Körper, der sie im Stich lässt und verrät. Ich bewundere die, die ihre Ansprüche ständig zurückschrauben. Die Treppenstufen erklimmen, statt wie früher über Felsklippen zu klettern, die, statt über den stillen See zu rudern, am Ufer sitzen und malen.