Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» – Streitthema Wohlstand
Sind wir nun reicher geworden oder ärmer?

Ökonomen sind sich uneinig: Geht es uns nun immer besser – oder wächst die Wirtschaft wegen der Zuwanderung? Nun zeichnen sich laut René Scheu Tendenzen ab – sie sind nicht erfreulich.
Publiziert: 23.01.2023 um 06:15 Uhr
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Zurzeit gehts um die Frage aller Fragen: Ist der Wohlstand für Herrn und Frau Schweizer in den letzten Jahrzehnten tatsächlich gewachsen? Oder hat bloss die Zuwanderung, also die Bevölkerungszahl und im Gleichschritt das Bruttoinlandprodukt (BIP) zugenommen?

Jeder Praktiker entscheidet im Stillen für sich selbst, indem er die Aktiv- und Passivseite seines Lebens bilanziert. Er schaut sich an, ob am Ende des Jahres mehr Cash übrig bleibt – oder ob er, sollte dies nicht der Fall sein, wenigstens seinen Lebensstandard merklich heben konnte. Und zugleich führt er intuitiv Buch über die Verspätungen der SBB, Dichtestress, Verkehrschaos und die Klassengrösse seiner Kinder. Ist die Bilanz der letzten Jahre positiv – oder treten wir an Ort?

Was bringt die 10-Millionen-Schweiz?

Schaut man sich die Abstimmungsresultate der letzten Jahre an (Stichwort Masseneinwanderungs-Initiative), dürfte die Mehrheit der Bürger eher skeptisch eingestellt sein. Längst steht am Horizont die Vision einer 10-Millionen-Schweiz. Auch hier: Bringt das nun Wohlstand oder kostet es nur für die Einzelnen?

Ökonom Reiner Eichenberger warnt schon lange: Das BIP wachse, aber eben nicht das BIP pro Kopf.
Foto: imago/Jürgen Heinrich

Der Streit tobt auch unter Ökonomen. Jahrelang pries das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) das Mantra: Zuwanderung ist BIP-Wachstum, ist Wohlstandszuwachs. Reiner Eichenberger, Professor für Ökonomie in Freiburg, hielt dagegen: Das BIP sei zwar gewachsen, aber eben nicht das BIP pro Kopf.

Wenn wir arbeiten, dann umso produktiver

Nun hat sich Boris Zürcher gemeldet, Leiter der Direktion für Arbeit im Seco. Er spricht offen und gibt Eichenberger teilweise recht: Das Wachstum des BIP pro Kopf bleibe überschaubar. Rundensieg für Eichenberger.

Doch führt Zürcher zugleich eine neue Messgrösse ein: das Produktivitätswachstum. Der Gedanke geht so: Das gesamte Arbeitsvolumen ist deutlich weniger gewachsen als die arbeitende Bevölkerung und als das BIP – wir arbeiten also pro Kopf immer weniger beziehungsweise immer mehr Teilzeit. Aber wenn wir arbeiten, dann um so produktiver. Ergo, folgert Zürcher, ist eben doch alles gut.

Niederlage nach Punkten

Halt, sichern. Klar ist erst mal: Der Arbeitsmarkt reagiert auf die Zuwanderung. Entweder wollen Herr und Frau Schweizer freiwillig immer weniger arbeiten – deshalb braucht es Immigration in den Arbeitsmarkt. Dann hätten wir in der Eidgenossenschaft mittlerweile altgriechische Verhältnisse: mehr kontemplatives Leben für die Einheimischen, mehr schmutzige Arbeit für die Zugewanderten. Oder die Arbeitseinwanderer verdrängen tatsächlich bisherige Arbeitnehmer bzw. forcieren deren Pensen-Reduktion.

Beides wäre eine Niederlage nach Punkten für Herrn und Frau Schweizer.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.

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