Zehn Entwicklungen, die das zu Ende gehende Jahrzehnt geprägt haben
Das war s Zäni!

Was bleibt vom vergangenen Jahrzehnt? Zehn Vorschläge für die prägendsten Entwicklungen der Dekade.
Publiziert: 29.12.2019 um 23:20 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2020 um 14:04 Uhr
Das Jahrzehnt der Influencer. Unter ihnen Kylie Jenner (22), jüngste Selfmade-Milliardärin der Geschichte.
Foto: Forbes Magazin
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Daniel Arnet, Jonas Dreyfus, Valentin Rubin, Benno Tuchschmid, Rebecca Wyss

Frauen an die Macht

Am 14. Juni 2019 haben die Frauen genug: Hunderttausende ziehen durch die Strassen. Gegen Ungleichheit, gegen Diskriminierung, gegen sexuelle Übergriffe. Es ist der Schweizer Höhepunkt einer globalen Frauen-Bewegung, deren Auslöser unter anderem ein Skandal in den USA war.

In Hollywood beschuldigten mehrere Frauen den Filmproduzenten Harvey Weinstein (67) sexueller Übergriffe und der Vergewaltigung. Am 15. Oktober 2017 rief die Schauspielerin Alyssa Milano (47) Frauen dazu auf, mit dem Hashtag #MeToo Übergriffe publik zu machen.

Der Hashtag wird zu einer internationalen Bewegung. Ein Jahr zuvor hatten Schweizer Frauen bereits mit dem #Aufschrei gegen sexuelle Gewalt protestiert.

All diese Ungerechtigkeiten prangerten die Schweizer Frauen an, als sie im letzten Sommer inspiriert durch den Frauenstreik von 1991 auf die Strasse gingen.

Noch im Juni 2019 reagierte der Bundesrat auf eine Forderung der Streikenden. Er entschied, dass börsenkotierte Firmen sich künftig rechtfertigen müssen, wenn sie zu wenig Chefinnen beschäftigen. Und bestimmte Unternehmen müssen regelmässig eine Lohngleichheitsanalyse durchführen.

Das sind erst kleine Schritte. Doch es gibt Hoffnung: Im Parlament bestimmen so viele Politikerinnen mit wie noch nie.

Alles strömt digital

Vor 40 Jahren war man stolz auf seine Vinyl-Platten, ab 1982 auf die angehäuften CDs, um die Jahrtausendwende lud man die Musik als Datei auf einen iPod – in der letzten Dekade verschwand die Sammlung in der Cloud. Das Gleiche passiert mit dem Film. Streaming ist das Zauberwort der 10er-Jahre.

Spotify, der schwedische Musikstreaming-Marktführer, zählt heute weltweit rund 110 Millionen Abo-Kunden. Der Film- und Serienstreamingdienst Netflix hat über 160 Millionen Kunden.

Das Online-Business verändert die Realwirtschaft von Grund auf: Der Kleiderhändler Zalando sorgt für Rekordzahlen beim Paketversand, Lieferservices wie Eat.ch machen in der Schweiz über 1,2 Milliarden Franken Umsatz, Uber wälzt auf der ganzen Welt das Taxi-Geschäft um. Disruption nennt man das, wenn ein bestehendes Geschäft durch eine innovative Idee komplett ersetzt wird.

Für den Kunden ist heute alles einfacher: Er kann heute alles bequem zu Hause ordern und konsumieren. Kasse machen die Internetfirmen. In die Röhre gucken jene, die zu Dumping-Preisen für die Netzfirmen schuften.

Klimawandel, Sinneswandel

Anfang der 10er-Jahre flogen wir noch wie wild in der Welt herum, heute nicht mehr oder dann mit schlechtem Gewissen. Dieser Sinneswandel hat vor allem mit ihr zu tun: Greta Thunberg. Die 16-Jährige schaffte es, dass ihr bedeutende Politiker auf der ganzen Welt zuhören. Sie mobilisierte Hunderttausende von Jugendlichen. Und sie macht ganz viele rasend vor Wut. So oder so, das Thema Klimawandel lässt niemanden mehr kalt.

In der Schweiz hat man das an den Demos auf der Strasse gesehen. Aber auch an den letzten Wahlen. Die Politik nahm das Thema auf. Die bürgerliche FDP besann sich plötzlich auf angeblich grüne Wurzeln, so mancher SVP-Politiker leugnet den Klimawandel. Und die Grünen wurden zur viertstärksten Kraft im Nationalrat. Die Schweiz hat einen neuen Röstigraben: zwischen Klimabewussten und Klimaskeptikern.

Ab auf den Fluss

Wer mit dem Flussschwimmen anfing, darüber lässt sich streiten. Vielleicht waren es vor Ewigkeiten die Berner in ihrer Aare. Oder die Basler in ihrem Rhein. Fest steht, dass es in den letzten zehn Jahren die ganze Schweiz erfasst hat: das Flussfieber. Von Zürich bis Solothurn segeln im Sommer Gummiboote voller Teenager und Muskelprotze auf Einhörnern die Flüsse hinunter. An einem Samstag wassern Böötler in Dietikon ZH bis zu 80 aufblasbare Ungetüme – pro Stunde. Und hinterlassen eine Tonne Abfall an einem Wochenende.

Ironischerweise ist es gerade der Klimawandel, der ein Treiber des Fluss-Hypes ist. Die Schweiz wird immer mediterraner, die Badis immer überfüllter, aber ein Meer haben wir immer noch nicht. Also ab in den Fluss. Und dass aufblasbare Flamingos und Einhörner Trend werden, hat wiederum mit Instagram zu tun. Die Tierchen machen sich dort einfach gut!

Ein Ende des Flussfiebers ist nicht absehbar. Im Frühling 2019 hat der Bundesrat die Promillegrenze für Flussböötler aufgehoben.

Neues Mannsbild

Toxische Männlichkeit ist das Reizwort der 10er-Jahre. Es bezeichnet eine altmodische Klischeevorstellung davon, wie ein echter Kerl zu sein hat, und impliziert, dass diese Klischeevorstellung negative Auswirkungen auf die Gesellschaft hat.

2016 übernahmen deutschsprachige Medien den Begriff aus dem Englischen. Endgültig im Mainstream kam er an, als die amerikanische Firma Gillette vergangenen Januar ein Werbevideo für Rasierklingen veröffentlichte, das toxische Männlichkeit in all ihren Varianten angeprangert.

Zu melancholischen Geigenklängen ist ein Vater zu sehen, der seinen Sohn davon abhält, einen rothaarigen Buben zu drangsalieren, eine Mutter hält ihren schluchzende Jungen im Arm. Gut aussehende Typen schützen Frauen vor Anmache.

Die Botschaft ist klar: Männer dürfen weinen, sollen Konflikte ohne Gewalt lösen, müssen nicht den Macho raushängen. Und sie haben Besseres verdient, als sich ihren Ruf von polternden Sexisten ruinieren zu lassen.

Das Video provozierte einen Shitstorm. Nicht, weil Männer sich schubladisiert fühlten, wie man annehmen könnte. Nein, weil viele von ihnen aggressiv auf die Vorstellung einer anderen Art von Virilität reagieren. Typisch toxisch männlich!

Politclowns machen ernst

Ein Komiker mausert sich 2013 zum stärksten Oppositionspolitiker Italiens – Beppe Grillo. Ein Kabarettist wird 2019 Präsident der Ukraine – Wolodimir Selenski. Und ein Satiriker lanciert im selben Jahr eine ernst zu nehmende Kandidatur für den Parteivorsitz der deutschen Sozialdemokraten – Jan Böhmermann.

Naturgemäss ist es die Aufgabe von Satire, die Politik aufs Korn zu nehmen. Doch in den letzten Jahren wagten sich Satiriker und Komiker mehr und mehr von der Unterhaltungs- auf die politische Bühne. Und dort stehen bereits Figuren wie Donald Trump oder Boris Johnson.

Vielleicht fühlen sich die Komiker gerade deshalb mehr der Politik verpflichtet als früher. Weil sie sehen, dass man auf dem diplomatischen Parkett nicht mit Contenance auftrumpfen muss, sondern mit Unterhaltung. Und das können sie ja schon.

Vielleicht steht die Entwicklung aber auch für ein schwindendes Interesse der Bevölkerung an der Politik. Getreu dem Motto: Wenns eh nicht drauf ankommt, wer da oben sitzt, kann ich ja gleich jemanden wählen, mit dem es nicht langweilig wird!

Selbstinszenierung total

In den 10er-Jahren wurde die Prophezeiung Andy Warhols wahr: «In der Zukunft wird jeder für 15 Minuten berühmt sein.» Social-Media-Plattformen, in denen sich Menschen auf Fotos und in Videos zur Schau stellen, setzten sich durch.

Über eine Viertelstunde im Rampenlicht können die beliebtesten Selbstinszenierer, die Influencer, nur lachen. Ihre Fans beschäftigen sich auf dem Smartphone ununterbrochen mit ihnen.

Wer es richtig macht, verdient mit «Influencen» viel Geld. Die Amerikanerin Kylie Jenner (22) nutzt ihre Gefolgschaft auf Instagram, bestehend aus 154 Millionen Personen, um ihre Kosmetiklinie zu bewerben. Das hat sie zur jüngsten Selfmade-Milliardärin der Geschichte gemacht.

Wer es falsch macht, provoziert einen Shitstorm, wie zum Beispiel der deutsche Influencer Luca Scharpenberg (23), der sich online darüber beklagte, dass er in einem Club nicht gratis feiern durfte. «Du leidest unter Realitätsverlust», lautete eine der Hunderten negativen Reaktionen, die er dafür erntete. Fragt sich nur: welcher Realität?

Essen mit Verbissenheit

Eine Trauergemeinschaft steht am Grab, der Pfarrer fragt: «Möchte noch jemand etwas sagen?» Nur einer meldet sich zu Wort: «Ich bin Veganer!»

Über den Witz können Fleisch-Esser lachen. Er macht sich darüber lustig, dass Menschen, die keine tierischen Produkte konsumieren, das immer allen anderen unter die Nase reiben.

Veganer würden widersprechen und behaupten, dass Nicht-Veganer einfach nicht hören wollen, wie Tiere leiden, bevor sie geschlachtet werden und Nutztierhaltung zur Überhitzung der Erde beiträgt.

Just im Moment, als Vegetarismus immer normaler wurde, tauchten in den 10er-Jahren neue Ernährungskonzepte auf, deren Anhänger nicht mit sich spassen lassen. Neben dem Veganismus machte die glutenfreie Ernährung Schule, der menschliche Körper vertrug immer weniger Milchprodukte, und die Trend-Frucht Avocado stellte sich plötzlich als Klimasünder heraus.

Wer es mit den Doktrinen locker nimmt, könnte sich über all die neuen Geschmäcker freuen, die dank den neuen Ernährungskonzepten auf dem Schweizer Speiseplan landeten. Zum Beispiel die erdige Note von Sojamilch. Leider ist Lockerheit im Umgang mit Ernährung gerade kein Markenzeichen der 10er-Jahre.

Ich bin, wer ich bin

Was ist Schönheit? Und: Wer sagt, was schön ist? Fragen, so alt wie die Menschheit. Die Antworten sind unterschiedlich: mal muskulös, mal mager, mal braun gebrannt, mal von adeliger Blässe. Eines aber ist stets gleich: Menschen tun sich schwer, ja verzweifeln daran, sich dem jeweiligen Ideal anzupassen.

Einigen wurde es in den 10er-Jahren zu bunt: Von wegen Waschbrettbauch oder Bikinifigur. Bikini? Bye-Kini! Mein Körper gehört mir, und nur ich sage, was gut oder schlecht daran ist! Nicht die Gesellschaft, nicht mein Gegenüber. Und auch nicht du. Sondern ich.

Und wie teilt man heutzutage den eigenen Unmut über geltende Schönheitsideale mit? Über Social Media! Fast vier Millionen Einträge lassen sich etwa bei Instagram unter dem Hashtag #bodypositivity finden.

Der Bewegung liegt eine Gender-Diskussion zugrunde: Vor allem Frauen wollen sich nicht länger von Männern sagen lassen, wie sie auszusehen haben. Sie tanken Selbstvertrauen, indem sie ihre – in den Augen der Gesellschaft – nicht makellosen Körper zur Schau stellen: Schaut her, ich bin nicht perfekt, wie ihr es euch vorstellt. Aber ich bin ich, und ich fühle mich wohl.

Elektronisch rauchen

Es war ein weiter Weg. Vom Marlboro-Man, der rauchend gen Sonnenuntergang reitet, bis zur Geschäftsfrau, die Nikotin aus einem Gerät saugt, das einem USB-Stick ähnelt. Die Tabakindustrie hat in den letzten zehn Jahren einen radikalen Image-Wandel vollzogen.

Die E-Zigarette ist kein Zufall. Sie ist Überlebensstrategie: Bei der klassischen Zigarette denken Konsumenten heute an Lungenkrebs und Gestank. Dank der «rauchfreien Alternative» sollen sie unbelastet weiterdampfen können. Sechs Milliarden Franken will alleine der in Neuenburg ansässige Konzern Philip Morris in die Forschung seines Produkts Iqos (kurz: I quit ordinary smoking) investiert haben.

Es zahlt sich aus: Die Zahl der E-Raucher steigt rasant. Der kalifornische E-Zigaretten-Produzent Juul entwickelte sich gar zum Social-Media-Hype mit eigenem Verb: Man raucht nicht mehr, man juult.

Doch das Image der gesunden Alternative bekommt Risse: In den USA sind bisher 47 Menschen an der Folge von Lungenschäden durch E-Zigaretten gestorben. Auch in der Schweiz wurden schon zwei Personen mit Vergiftungen in Spitäler eingeliefert.

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