Interview mit Kinderarzt Cyril Lüdin
Ist Langzeit-Stillen nicht egoistisch, Herr Doktor?

Das Stillen generell war vor 50 Jahren peinlich, weiss Kinderarzt Cyril Lüdin.
Publiziert: 04.07.2012 um 19:34 Uhr
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Aktualisiert: 08.09.2018 um 00:04 Uhr
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Interview von Nadine Chaignat

BLICK: Warum wirkt ein Kleinkind an der Brust so befremdend?
Dr. Cyril Lüdin:
Vor fünfzig Jahren galt es als peinlich, überhaupt zu stillen. Wir müssen uns erst wieder dran gewöhnen, dass eine Mutter ihre Bluse öffnet. Wir sind gerne dabei, Brüste in Heftli anzuschauen, aber ansonsten sehr prüde.

Trotzdem: Ein älteres Kind, das an der Brust trinkt, ist doch komisch.
Weil wir eine bestimmte Vorstellung haben, wie es sein sollte! Ein Kleinkind noch zu stillen, ist nicht mehr das Übliche für uns, entspricht nicht der Norm. Das machen zwei von 100 Müttern.

War das früher anders?
Im Mittelalter war die Stilldauer pro Kind drei, vier Jahre. Mit der Industrialisierung hat sich das gewandelt. Mitte des letzten Jahrhunderts kam künstliche Babymilch auf den Markt. Vor allem in den 60er-Jahren war Stillen peinlich. Trotz Gegenbewegung gibt es heute wenig Mütter, die länger als vier Monate voll stillen.

Was ist denn offiziell normal?
Die WHO empfiehlt, sechs Monate ausschliesslich zu stillen, mit Beikost bis zwei Jahre und mehr, die amerikanische Akademie der Kinderärzte eine mindestens einjährige Stillzeit. Demgegenüber steht die Nahrungsmittelindustrie, ein grosser Markt weltweit.

Warum ist Langzeitstillen nicht mehr verbreitet?
Es ist schwierig, diese Verfügbarkeit und Verlässlichkeit aufrecht zu erhalten, ein krasser Widerspruch zur gesellschaftlichen Norm und schlecht vereinbar mit dem Arbeitsprozess.

Hat Langzeitstillen Vorteile?
Langzeitstillmütter haben eine sehr gute Bindung zum Kind. Eine Mutter im Stress wird ihr Kind kaum so lang stillen. Durch das stabile Bindungsmuster und die stillbedingten Ruhephasen ist das Kind sicher, hat weniger Angst, schreit weniger. Sein Gehirn reift besser aus. Es ent­wickelt im Säuglingsalter weniger Ess- und Schlafstörungen.

Haben Dreijährige, die an der Brust hängen, nicht Ablöseprobleme?
Ich mache die Erfahrung, dass Langzeitstillmütter normalerweise eine lockere Beziehung zum Kind haben. Ungesund wäre, wenn die Mutter nicht loslässt. Mit neun Monaten muss das Kind neue Aussenkontakte schliessen dürfen. Wenn es gesellschaftlich  selbständig wird, ist das Stillen kein Thema mehr.

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