Diese vier Schweizer hatten den Mut zum Neuanfang
Neuer Start, Neues Glück

Zu Beginn des Jahres liebäugeln viele Menschen mit Neuanfängen. Nur Mut dazu! Wir haben vier Menschen getroffen, die alles gewagt haben, um beruflich nochmals völlig neu anzufangen. Eine Sache haben sie alle gemein: Sie sind nun viel glücklicher.
Publiziert: 11.01.2018 um 21:42 Uhr
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Aktualisiert: 05.11.2018 um 21:01 Uhr
Silvia Tschui

Wer hat noch nie ­davon geträumt: nochmals aufbrechen, nochmals ­etwas ganz anderes machen, nochmals Neues sehen und Neues lernen, mit völlig anderen Menschen in Kontakt kommen. Insbesondere nach einigen Jahren Berufserfahrung kann der Ennui einsetzen – und die Frage: Wars das jetzt? Mache ich das wirklich bis 65? Ist das mein Leben?

Der Beruf, für den man sich mit 16, oder das Studium, für das man sich mit 20 Jahren entscheidet, ist vielleicht nicht das, was einen mit 30, 40, oder gar 50 noch interessiert. Was früher die Norm war, nämlich einen Beruf zu lernen und diesen bis zur Pensionierung ­auszuüben, ist zudem nicht mehr selbstverständlich: Zu schnell ­ändern sich Arbeitsmodelle und Jobprofile.

Zahlen des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2015 zeigen: Jeder zweite Lehrling arbeitet später auf einem anderen Beruf, insbeson­dere im Bereich Industrie. Dort sind es gar 55 Prozent aller Lehr­abgänger, die später etwas ­anderes machen. Möglich ist dies oft durch berufsbegleitende Weiterbildungen.

Die Komfortzone zu verlassen, ist schwierig

Es ist aber nicht nur mangelndes ­Interesse oder eine Midlife-Krise, die Menschen dazu bringt, ihren Beruf zu wechseln. Der Druck auf Arbeitnehmer nimmt stetig zu, wie die Studie «Barometer Gute Arbeit», ein Kooperationsprojekt der Berner Fachhochschule und Travail.Suisse, im November 2017 zeigt.

Arbeitnehmer fürchten zunehmend um ihren Arbeitsplatz, können immer weniger zwischen Arbeit und Freizeit trennen und sind entsprechend gestresst. Eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Bern zeigt sogar schon 2014: Die Burn-out-Rate in der Schweiz steigt, viele Jobs machen ihre ­Arbeitnehmer regel­recht krank, Hunderttau­sende sind unmittelbar Burn-out-gefährdet.

Oft ist es aber gar nicht die zeit­liche Belastung oder der Stress, der Arbeitnehmer so belastet, sondern dass sie schlicht am falschen Ort stecken. Grosse Herausforderungen können nämlich durchaus auch Freude bereiten, sinn- oder gar identitätsstiftend sein – wenn man sie denn gerne schultert und einen Sinn sieht in dem, was man tut.

Trotz dieses Wissens arbeiten ­unsere psychologischen Muster oft gegen uns. Sich an Neues zu ­gewöhnen, kostet grosse Kraft, die sich sogar anhand des Sauerstoff- und Zuckerverbrauchs im Hirn messen lässt: Der steigt beim ­Jobwechsel oder Umzug messbar an. Wir tendieren also stets dazu, im Vertrauten zu verweilen, um Ressourcen zu sparen.

Kein Einziger bereut den mutigen Schritt

Wir haben vier Menschen besucht, die sich trotzdem aus ihrem Dilemma befreiten: Sie waren unglücklich in ihrem teilweise schon jahrzehntelang ausgeübten Beruf. Sie alle sind durch äussere oder innere Umstände an einen Punkt gelangt, an dem sie sagten: So will ich mein berufliches Leben nicht mehr.

Sie haben allen Mut zusammengenommen und sind von Mitte 30 bis ­Mitte 40 nochmals ins kalte Wasser gesprungen, um sich ein neues, ­anderes, besseres berufliches Leben aufzubauen. Sie haben den Gürtel enger geschnallt, neben dem Beruf ein Zusatzstudium absolviert, ihre Pensionskasse ausgelöst oder sich sonstige Hilfe geholt.

Dieser Wechsel war für alle nicht einfach, fast alle mussten Rückschläge hinnehmen und insbe­sondere finanziell eine Zeit lang unten durch. Aber keiner von ihnen bereut die Erfahrung, auch wenn sie bis heute vielleicht etwas weniger Sicherheit kennen als ­zuvor. Dafür haben sie nicht nur ­einen neuen Beruf, sondern eine Berufung gefunden, fühlen sich glücklicher und sehen einen Sinn in ihrem Tun. Zurück in den alten Job will kein Einziger. 

«Ich will nie mehr zurück ins Klassenzimmer»

Zehn Jahre lang steht Seklehrerin Tamara Stoller (44) im Klassenzimmer, hält Horden von nicht unbedingt ganz einfachen Schülern im Zaum. Diese Horden hat sie vor ein paar Jahren gegen Herden eingetauscht: zunächst Kühe, jetzt Geissen. «Die können einen auch zum Wahnsinn treiben», meint Stoller und lacht.

Trotzdem würde sie den Beruf der Landwirtin nie mehr gegen den der Lehrerin zurücktauschen. Zum Landwirtinnenberuf kommt sie zufällig. Nachdem sie eine «versiechete» ­Klasse übernommen und zum Abschluss geführt hat, fragt sich Stoller: Will ich mir diesen Stress wirklich ­antun, bis ich 64 bin?

Da kommt das Angebot einer entfernten Bekannten wie gerufen. Diese betreibt in den USA einen Biohof und braucht Hilfe beim Käsen. Stoller, die schon als Kind ihre Aufenthalte auf dem Bauernhof von Verwandten geliebt hat, zögert nicht lange und kündigt sowohl Job und Wohnung – und erhält das Visum nicht. «Jetzt erst recht, hab ich mir gedacht», sagt Stoller, «wenn ich sowieso ohne Job und Wohnung dastehe, kann ich gleich ­etwas Neues anfangen.»

Sie kommt mit 37 Jahren auf dem Hof Wagenburg unter und kann eine Lehre als Landwirtin anfangen. Finanziell ist das hart. «Ich habe 600 Franken ­verdient», sagt Stoller. Gewohnt hat sie in einem Bauwagen auf dem ­Gelände, immerhin war für das Essen gesorgt. Irgendwie geht es, Stoller lebt äusserst bescheiden, sie kauft sich zwei Jahre lang nichts zum Anziehen. Dafür ist sie glücklich, bleibt nach der Lehre ein paar Jahre und lernt ihren heutigen Mann kennen.

Zusammen übernehmen sie einen Hof im Zürcher Oberland und verlegen sich auf Demeter-Fleischwirtschaft mit Direktvertrieb. Ihr Fleisch und ihre Würste finden reissenden Absatz, die beiden bauen sich in kürzester Zeit ­einen grossen Kundenstamm von Restau­rants und Privaten auf.

In ­Zukunft möchten sie vermehrt auf Geissenkäse setzen. ­Zurück ins Klassen­zimmer will sie nie mehr. «In der Landwirt­lehre hatte ich ­Arbeitstage von morgens um sechs bis abends um sieben Uhr, vier Wochen Ferien – und ich war nie derart erschöpft, wie ich das in dem Knochenjob als Lehrerin ständig war.»

«Ich helfe der Gesellschaft – das gibt mir viel»

Patrik Müller, vom Zimmermann zum Antiaggressionstrainer.
Foto: Stefan Bohrer

Patrik Müller (47) ist eine eindrückliche ­Erscheinung: gross, breit, mit bedächtigen, kraftvollen Bewegungen. Das kommt wohl von seinem Erstberuf: Müller hat als gelernter Zimmermann Balken geschleppt und Dächer errichtet. Ein Beruf, den er wegen Vorbildern wie seinem Pflegebruder ergriffen hat. Bloss kann er ihn nach einigen Jahren nicht mehr ausüben: Ein Autounfall mit Schleudertrauma verletzt vor Jahrzehnten irrever­sibel einen oberen Halswirbel.

Körperliche Arbeit wird zunehmend schwieriger, seine ­Hände und Finger schlafen ständig ein. Die IV bewilligt Müller eine Umschulung – für ihn rückblickend ein grosses Glück. Denn jetzt kann Müller das tun, wozu er sich berufen fühlt: Er lässt sich im Sozialbereich ausbilden. Die Gründe dafür liegen in seiner Biografie. «Ich war ein Pflegebub, weiss also über nichtkonventionelle Umstände Bescheid», sagt er.

Nur schon die Ausbildung gibt ihm viel. ­«Jeder sollte über Entwicklungspsychologie und Lernpsychologie Bescheid wissen – auch, um sich selber besser zu verstehen.» Nach ­Jahren in der Jugendarbeit, als Dozent und als Erwachsenenbildner hat sich Müller nun ­selbständig gemacht – hauptsächlich als Antiaggressionstrainer, für Firmen, in denen es im Team nicht läuft, für Privatpersonen, die mit ­ihren Kindern nicht mehr klarkommen, oder für Schulen bei Mobbing und dergleichen.

Im Zürcher Unterland arbeitet er für diverse Gemeinden in der Arbeitsintegration für psychisch ­erkrankte Menschen. In seinen alten Beruf würde er nie zurückwollen. «Als Antiaggressionstrainer helfe ich der Gesellschaft, das gibt mir sehr viel», sagt er – und gibt allen Eltern einen Tipp: «Hört auf mit antiautoritär, setzt Regeln durch, bringt euren Kindern Anstand bei, von klein auf – sie haben es dann viel, viel ein­facher im Leben.»

Müllers Geschäft läuft gut, momentan arbeitet sogar sein 21-jähriger Sohn in einem Zwischenjahr bei ihm, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Den Umweg übers Handwerk spart sich Müllers Sohn. Er studiert ab nächstem Sommer lieber gleich Psychologie.

«Die Dankes-briefe sind der Lohn dafür, dass ich Mensche  Freude und  Nähe bringen kann»

Elsa Schibler, von der Betriebs­wirtschafterin zur Kulturtempel-Betreiberin.
Foto: Philippe Rossier

Elsa Schibler (43) ist in ihrem früheren Leben gut bezahlt, frustriert und gleichzeitig gestresst und gelangweilt. Die in Spanien ­aufgewachsene Tochter eines Schweizer Chemikers und einer spanischen Theaterregisseurin studiert in Spanien und Paris Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Marketing und Kommunikation und legt ­danach eine Bilderbuchkarriere hin.

Sie ­arbeitet nach einigen anderen Stationen bei der Uno, organisiert unter anderem karitative Gross­anlässe in der Schweiz. Bei allem Ehrgeiz – ihr ­Vater ist Direktor der Produktionsabteilung des Nahrungsmittelkonzerns Hero und legt Elsa und ­ihrer Schwester Arbeitsmoral und den Willen zum Erfolg sozusagen in die Wiege – nagt doch stets der Zweifel an Schibler, der Einfluss der ­Mutter macht sich bemerkbar: Die schleppt die Kinder von klein auf ins Museum, ins Ballett, zu Tanz­veranstaltungen.

Lange können die Geschwister Schibler beide Seiten ihrer Herkunft vereinen, ­neben Betriebswirtschaft studieren sie auch am Konservatorium Klavier. Vor einigen Jahren jedoch, längst im Geschäftsleben angekommen, vermisst Elsa Schibler die Kultur immer schmerzlicher. Es braucht jedoch einen äusseren Anlass, ­bevor sie ihr Leben radikal ändert.

«Die Schwangerschaft, als sich alles in meinem Körper änderte, hat mir vor vier Jahren Kraft gegeben, auch äusserlich alles zu ändern.» Mit dem Einverständnis und der Unterstützung ihres Vaters und ihres Mannes – Familie ist ihr das Wichtigste – ­kündigt Schibler und schreibt ein Konzept für einen Kulturtempel. Eine Bar soll es geben, Raum zum Tanzen, Kunst an den Wänden und die passende Akustik für Konzerte.

Seit einem knappen Jahr ­führen sie und ihre Schwester Laura nun das ­Mimos oberhalb der Zürcher Kornhausbrücke und haben bereits unzählige Tangoabende, Kindertheater, Konzerte von Jazz über Latin bis zu Blues und verschiedene Sozialeinsätze organisiert. Hinter der Bar stapeln sich Dankesbriefe. «Das ist der Lohn», sagt sie, die sich nur ein bescheidenes Gehalt auszahlen kann, und wischt sich eine Träne der Rührung aus dem Auge. Zurück in die Wirtschaft will sie auf keinen Fall. «Das hier ist wie ein Traum.» Sagts und nimmt einen zum Abschied in die Arme. 

«Das hier, das ist kein Beruf, das ist eine Berufung»

Nicole Braschler, einst Marketingplanerin, jetzt Kunsttherapeutin.
Foto: Thomas Meier

Nicole Braschler (39) blickt durch ihr Atelier mitten im Zürcher Kreis 4 aus dem Fenster. Im Raum befinden sich Staffeleien, unzählige Pinsel, diverse Farben und Papier- und Kartonarten, im Hintergrund sieht man in die Natur. «Es ist eine Berufung», sagt sie.

Hier behandelt sie neben ihrer 60-Prozent-Festanstellung in einer psychiatrischen Klinik als Kunsttherapeutin private Kunden – hauptsächlich Burn-out-Patienten. Dafür hat sie Mitte 30 den Computerbildschirm und Businessmeetings aufgegeben. ­«Zuvor habe ich als Medienplanerin ­gearbeitet, also für Kunden wie die UBS entschieden, wo welche Anzeige platziert wird.»

Froh war sie damit nicht. «Ich bin da reingerutscht und habe mich ­immer fehl am Platz gefühlt, bin ich doch überhaupt kein Zahlenmensch.»Über Jahre sucht sie nach einer Alterna­tive, informiert sich über diverse Ausbildungsgänge. Kunsttherapie möchte sie schon längst studieren, sie weiss aber, dass es hart wird. «Es gibt kaum Jobs auf dem Feld, das Ganze ist eine unsichere Sache.»

Braschler zögert, überlegt sich, lieber das Diplom als Medienplanerin zu machen – um auf der sicheren Seite zu sein, obwohl sie weiss, dass ihr der Beruf nicht entspricht. Dann, nach der Geburt ihrer zweiten Tochter vor knapp zehn Jahren, geschieht eine Tragödie: Braschlers Cousin stirbt sehr jung, mit Anfang 20.

In diesem Moment weiss Braschler: «Das Leben ist einfach zu kurz – was mache ich hier überhaupt?» Sie entscheidet sich mit 31 Jahren, trotz aller Sicherheitsbedenken, die fünfjährige ­berufsbegleitende Ausbildung in Angriff zu nehmen. Gelungen ist ihr dies unter anderem mit der Unterstützung ihres ­damaligen Mannes.

Heute hat Braschler zwar etwas weniger Arbeitsplatzsicher­heit. «Im Sommer war ich arbeitslos, aber ich lasse mich nicht beirren», sagt Braschler. Sie würde trotzdem nie mehr tauschen. «Ich helfe Menschen, tue mit ihnen etwas, das ich liebe, und ­verdiene dafür erst noch Geld.»

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