Selbstversuch in der Kirche
Kommt man hier Gott näher?

Gott ist überall, heisst es. 2019 ist er fast nirgends mehr. Kann man dem Glauben näherkommen, wenn man regelmässig den Gottesdienst besucht? Ein Selbstversuch in Kirchenbank 23.
Publiziert: 21.12.2019 um 17:02 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 15:15 Uhr
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Die Journalistin Alexandra Fitz besuchte eine Zeit lang den Gottesdienst in der katholischen Kirche St. Peter und Paul in Zürich. Sie wollte wissen, wie das so ist.
Foto: Thomas Meier
Alexandra Fitz

Theatralischer könnte mein erstes Mal nicht sein. Die Glocken erklingen, just als ich vor dem Eingang stehe. Ich erstarre. Ist es Ehrfurcht, was ich fühle?

Früher lotste dieses Gebimmel das ganze Dorf in die Kirche. Heute geht kaum einer mehr hin. Auch ich gehe nur, wenn ich muss. Das trifft auf zwei Dinge zu: Ehe und Tod. Bei beidem bin ich so emotional, dass ich mit der Kirche vor allem eines verbinde: Tränen. An Beerdigungen sagen wir immer dasselbe: «Furchtbar, dass wir uns nur bei Todesfällen sehen!» Vielleicht bringt die Kirche die Leute wenigstens in schweren Zeiten noch zusammen.

Ich bin zwar katholisch, frage mich aber: Was glaube ich eigentlich? Ich werde eine Zeit lang einen Gottesdienst in der Kirche in meinem Quartier besuchen. Die Kirche St. Peter und Paul wird Mutterkirche genannt, weil sie die erste war, die Zürcher Katholiken nach der Reformation wieder bauen durften. Das war 1874. Bloss 27 Jahre nach dem letzten Bürgerkrieg in der Schweiz. Ein Religionskrieg, Katholiken gegen Reformierte. Vor 170 Jahren brachte man sich hierzulande wegen des Glaubens noch um, heute interessiert sich kaum mehr einer dafür.

Ich fragte mich schon immer: Wie alt ist das Weihwasser?

Ich setze mich in die 23. Reihe. Es gibt 26. Weiter vorne wäre der Fluchtweg zu weit. Immer wieder erklingt ein dumpfes Surren. Die grosse Eingangstür aus Holz öffnet sich automatisch. Dieses Geräusch wird mich verrückt machen.

Die Ankömmlinge tunken ihre Finger im Weihwasser und machen das Kreuz. Ich frage mich dasselbe wie vor 20 Jahren: Was ist so besonders an diesem Wasser und – vor allem – wie alt ist es?

Als Kind war der Kirchgang für mich eine Gedankenreise. Ich verstand nichts, schweifte ab und beobachtete die Leute. Ich bin zwar katholisch – also getauft, kommuniert (das kann man bestimmt nicht so sagen) und gefirmt. An das Erste erinnere ich mich nicht, bei der Erstkommunion trug ich eine Kutte, hatte Engelslocken und kam in der Zeitung, zur Firmung wollte ich bauchfrei tragen, mit meinem Firmgötti hab ich keinen Kontakt. Ich bin nicht religiös erzogen, das machte man damals einfach so.

Bei meinem Grossvater mussten wir an Allerheiligen Rosenkranz beten und ernteten böse Blicke, wenn wir beim Wort «gebenedeit» kicherten. Wenn es dasselbe bedeutet wie gepriesen oder gesegnet – warum kann man das dann nicht sagen? In die Kirche gingen wir bloss an Weihnachten, und irgendwann auch dann nicht mehr.

Ich werde weder singen noch beten

In der Kirche Peter und Paul hat jeder ein blaues Buch. Ausser mir. Im letzten Moment finde ich das Gestell mit den Gebetsbüchern. Ich werde aber weder singen noch beten. In der Reihe vor mir sitzt eine ältere Frau mit einem Micky-Maus-Einkaufswagen. In den Bänken gegenüber ein Herr, der laut vor sich her spricht und mit dem Körper vor und zurück wippt.

Es sind jetzt deutlich mehr Besucher. Gar nicht wenig für einen Dienstagmorgen. Eine Frau richtet das Rednerpult. Ich denke daran, wie wenig Frauen in der katholischen Kirche zu sagen haben. An die ungesunden Machtstrukturen, an die Missbrauchsskandale. Und lande bei den Kreuzzügen. Meine Generation – so wird mir auf dieser Kirchenbank bewusst – verbindet vorwiegend Negatives mit dem Katholizismus.

Ein junger Herr betritt die Bühne. Also den Altarraum. Schwarzer Rollkragenpulli, Brille. Er setzt sich an die Orgel und spielt. Mir laufen Tränen über die Wangen. Hier ist sie, die unlösliche Verbindung zwischen Kirche und Emotionalität. Die traurige Musik, das flackernde Licht, die vielen Gedanken, die einen übermannen. Es wird mir noch öfter so ergehen.

An die Wand wird ist die Nummer 786 projiziert. Auf meiner Seite steht etwas komplett anderes. Bis ich verstehe, dass es die Liednummer ist, verstummt die Kirche wieder. Die Gebete kenne ich. «Der Herr sei mit euch», sagt der Pfarrer und die Gemeinde antwortet: «Und mit deinem Geiste.» – «Erhebet eure Herzen!» – «Wir haben sie beim Herrn.»

«Lasset uns beten»

Der Hostienteil beginnt. Als Kind war das das einzig Spannende – vielleicht auch, weil er fast am Schluss kommt. Ich denk an die Backoblaten, die ich als Kind aus der Schublade stibitzte.

Ich beobachte, dass es immer noch welche gibt, die dem Pfarrer ihren offenen Mund entgegenhalten – und er ihnen den Leib Christi in den Mund schiebt. Der Pfarrer ruft zum Schlussgebet auf. Aber irgendwie heisst es die ganze Zeit: «Lasset uns beten.»

Ich fühle mich gelöst. Ich war in mich gekehrt. Das hat nicht viel mit dem zu tun, was der Pfarrer predigte, sondern vielmehr mit mir selbst. «Innehalten», wird der Pfarrer später einmal sagen. Während der Gottesdienste komme ich runter, bin für eine halbe Stunde in einem geschützten Raum und nicht am Smartphone.

Die Kirche steht in brutalem Wettbewerb

Die Auszeitmöglichkeiten sind heute vielfältig: Die einen gehen ins Yoga, die anderen meditieren. Auch Pfarrer Josef Hochstrasser sagt im Interview auf Seite 14, die Kirche stehe in einem brutalen Wettbewerb. Das sei gut, dann müssten sie sich etwas überlegen. Damit die Leute wieder Zeit finden.

Für diesen Artikel wollte ich jeden Sonntag in die Kirche gehen. Nach vier Wochen bilanzierte ich: 0 Sonntage. Eine Freundin, die ich am ehesten als gläubig bezeichne, sagte: «Wer keine Zeit hat, will halt nicht genug.»

Die Stellung des Katholizismus zeigt sich auch anhand der Reaktionen meines Umfelds. Heute muss man sich rechtfertigen, wenn man in die Kirche geht, früher wurde bestraft, wer nicht ging. Im Büro haben sie nach ein paar Besuchen Angst um mich und sprechen von «abdriften». Das Image der katholischen Kirche ist miserabel.

Der Pfarrer ist überraschend jung

Bei meinem zweiten Gottesdienst sitzen sicher 60 Leute in den Kirchenbänken. Den Grund für die zahlreichen Besucher ahne ich, als ich den Pfarrer sehe. Er ist jung und spricht laut und deutlich. Was selten vorkommt bei einem Gottesdienst. Ich finde ihn später auf der Website. Matthias Renggli, 36, Vikar – also stellvertretender Pfarrer. Auf seinem Foto streckt er Daumen, Zeige- und Mittelfinger aus. Der Segensgestus im Christentum. Renggli kommt aus Bonstetten ZH, machte eine Lehre bei einer Transportfirma, ging mit 19 ein paar Tage ins Kloster und fand seine Berufung. Er studierte Theologie in Chur und machte ein Auslandssemester in Jerusalem.

Der Vikar erzählt von der heiligen Elisabeth von Thüringen, es geht um Nächstenliebe. «Jeder solle heute etwas kleines Gutes tun.» Ich frage mich, wann ich mich endlich karitativ betätige.

Ich gehe zur Kommunion – das einzige Mal. Die ältere Dame mit dem roten Micky-Maus-Einkaufswagen aus der Reihe vor mir ist schon nach vorne geeilt. Welche Hand kommt in welche? Wann sage ich Amen? Schon klebt die Hostie an meinem Gaumen, sie ist immer noch ein Hauch von nichts.

Mittwochabend: zwei Mittdreissiger allein in der Kirche

Mittwochgebet, 18 Uhr: Ich sitze in der Reihe 23 und warte. Eine Frau kramt nach Münz für eine Opferkerze. Auf einem Schild steht, dass die Kerzen aus Flüssigwachs sind, um Russablagerungen zu verhindern. Dafür riecht es stark nach Petroleum. Auf der anderen Seite des Eingangs blinkt der Defibrillator. Ich sitze ganz allein in der Kirche.

In der Kapelle nebenan brennt Licht. Jemand singt. Mist, da drin wäre das Gebet. Ein junger Herr – schwarzer Parka, Kopfhörer, um die 30 – geht an mir vorbei und setzt sich in die vorderen Reihen. Mittwochabend, und zwei Mittdreissiger sitzen in einer katholischen Kirche.

Mit 17 war ich zwei Monate in Lagos, Nigeria, beim ältesten Bruder meiner Mutter. Ein Mann, so gescheit wie eine ganze Bibliothek. Eines Abends fragte er mich, woran ich glaube. Ich hatte keine Antwort. Er wurde laut, ich weinte. Immer mal wieder streift die Frage nach dem Glauben meine Gedanken, stellen tu ich mich ihr kaum.

Wie lange kann ich hier sitzen? Wann schliesst Gottes Haus? Ein Mann stellt vergessene Bücher zurück, füllt Kerzen auf und leert Spenden in einen Stoffsack. Es muss der Hausmeister sein. Später weiss ich, es ist der Sakristan, auch Messdiener genannt.

Um 18.25 Uhr geht die Türe der Kapelle auf, vier Leute treten heraus. Gottlob habe ich es verpasst – das wäre mir zu intim gewesen. Ich setze mich in eine Bar vis-à-vis und bestelle ein Glas Rotwein.

«Überall dieser nackte, blutende Typ!»

Langsam kenne ich die Kirchgänger. Die Frau mit dem camelfarbenen Mantel und dem schicken Gehstock, der schmale, südländische Mann mit Glatze und Bomberjacke. Er wird jedes Mal da sein. Wie die Frau mit der Micky-Maus-Tasche. Sie grüsst mich bereits.

Viele der Besucher sind alt. Ich frage mich, ob sie jemanden haben. Ob sie religiös sind oder ob es eine Beschäftigung ist zwischen Einsamkeit und Einsamkeit. Ich staune über die vielen jüngeren Gesichter – oft mit Migrationshintergrund. Auf der Website heisst es: Etwas mehr als die Hälfte der Kirchgemeindemitglieder (es sind 4000) sei zwischen 25 und 50 Jahren.

Am ersten Adventssonntag frage ich meinen Freund, ob er mich begleitet. Ich realisiere: Wir kennen uns ein Jahr, und ich habe keine Ahnung, wie er zu Gott steht. Bei meiner besten Freundin weiss ich es genau: Als wir im Herbst eine 5-Tage-Wanderung in Südtirol machen, schaut sie mich irgendwann wütend an: «Warum sagen wir eigentlich ständig ‹Grüss Gott›? Ich grüss doch diese Leute, und an Gott glaube ich sowieso nicht.» Als wir am gefühlt 25. Bildstöckli, in dem Maria den blutenden Jesus hält, vorbeiwandern, sagt sie nicht minder wütend: «Das ist doch pervers! Überall dieser nackte, blutende Typ!»

Ich habe Gott vergessen

Mein Freund geht nicht mit. Ich sitze in einer besonderen Messe, von Laien mitorganisiert. Mehr Leute im Altarraum, alle tragen ein Priestergewand, ein Chor singt. Die Besucher dürfen Wein aus dem goldenen Kelch trinken. Am Ende verkündet der Vikar: «Es gibt Apéro in der Pfarrei.» Ich gehe nicht hin und mache eine Weile Kirchenpause. Am dritten Adventssonntag möchte ich wieder hin. Als ich per Zufall um kurz vor halb sechs Uhr an der Kirche vorbeifahre und die Glocken erklingen, falle ich fast vom Fahrrad. Ich bin auf dem Weg zum Glühweinmarkt und habe Gott vergessen.

Vergangene Woche besuche ich die Pfarrei. Monika Meyer, seit zwölf Jahren im Sekretariat, bietet mir unkompliziert den leeren Bürotisch ihrer Kollegin an, bringt Espresso und quatscht drauflos. Sie erzählt von den vielen Plünderern, die mit Klebstoff am Lineal die Opferkassen bestehlen, vom Priestermangel und dass das der Grund sei, weshalb Pfarrer und Dekan René Berchtold trotz Pensionsalter noch bleibe – und von rund drei Kircheneintritten im Jahr. Wie viele austreten, weiss sie nicht. Im Kanton Zürich waren es letztes Jahr 5800. Viel mehr als die Jahre zuvor, was mit dem Missbrauchsskandal, der 2018 öffentlich wurde, zusammenhängt. Meyer schwärmt aber auch vom Team und vom Vikar, der junge Leute anziehe.

«Ich glaube an ein Comeback der Kirche»

Matthias Renggli trägt Jeans, blauen Kapuzenpulli und schwarze Turnschuhe. Er ist im dritten Jahr in der Mutterkirche. Eine eigene Pfarrei sei sein Ziel, da müsse er nicht mehr alles absprechen, sondern könne eigene Akzente setzen. «Ich glaube an ein Comeback der Kirche», sagt er in seiner Sakristei. Man könne nicht sagen, die Menschen seien nicht mehr religiös. Sie würden sich nach Halt sehnen. Die Kirche müsse lernen, dass sie nicht mehr das Monopol habe; ihre Struktur müsse sich ändern, sie müsse kreativ werden und den Leuten auf Augenhöhe begegnen. «Das könnte der Beginn einer neuen Religiosität sein», sagt Renggli und verabschiedet sich. Er hat zum Glühweintrinken abgemacht.

Die Frage, ob ich glaube oder nicht, ist zu gross, um sie mit ein paar Gottesdienstbesuchen zu beantworten. Ich habe es in 33 Jahren nicht geschafft. Aber wenn ich wieder einmal in mich kehren muss, innehalten, weiss ich jetzt ja, wo Gott hockt.

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