Darum gehts
Lola will gefüttert werden. Jeden Morgen steht sie da, mit Augen voll gespannter Erwartung. Lola ist kein Haustier, sondern ein digitaler Begleiter. Ein kleines Vögelchen in einer App, das mir helfen soll, gute Gewohnheiten aufzubauen. Ein Tamagotchi für die psychische Gesundheit.
Ich teste die App Finch – der englische Begriff für die Vogelfamilie der Finken – nun seit zwei Monaten. Zu Beginn musste ich mir Ziele setzen: Welche Gewohnheiten möchte ich etablieren? In meinem Fall sind das: mehr Wasser trinken, zwischen drei Recherchen auch einmal durchatmen und regelmässig ins Yoga gehen.
Jede dieser Aktivitäten kann ich quittieren und so Lola mit Aktivitätspunkten füttern. Nach meiner Morgenroutine hat Lola (den Namen habe ich ihr übrigens selbst gegeben) genug Energie, um auf Erkundungstour zu gehen. Ich bin im besten Fall dann auch aus dem Haus.
Mit meinem Vorhaben, gesunde Gewohnheiten zur Routine zu machen, entspreche ich der Statistik. Laut dem aktuellen Schweizer Präventionsmonitor des Forschungsinstituts gfs.bern messen 91 Prozent der Bevölkerung der psychischen Gesundheit einen hohen Stellenwert bei. Besonders ausgeprägt ist das Bewusstsein bei Frauen zwischen 18 und 39 – also genau in meiner Altersgruppe. Viele wünschen sich, ihrer psychischen Gesundheit mehr Beachtung zu schenken. So auch ich.
Die ersten Schritte
Also beginne ich meinen Tag nun mit Lola. Beim Öffnen der App begrüsst mich eine Affirmation: «Ich bringe Sonnenschein, wo immer ich hingehe» steht da auf Englisch. Affirmationen sind positive Glaubenssätze, die man sich selbst den Tag über sagen kann, um sie zu verinnerlichen.
«Affirmationen können kurzfristig motivieren», sagt Thomas Berger (54), Leiter der klinischen Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern, «jedoch nicht alle Menschen gleichermassen.» Er verweist dabei auf Studien, die zeigen, dass solche Zusprüche problematisch werden, wenn sie nicht der eigenen Selbstwahrnehmung entsprechen oder als unglaubwürdig empfunden werden.
«Positive Affirmationen können die Diskrepanz zwischen dem positiven Inhalt der Aussagen und dem eigenen negativen Selbstbild hervorheben.» Anstatt sich dadurch gut zu fühlen, führt man sich dann die eigenen Unzulänglichkeiten vor, was die Grundstimmung nur verschlechtert.
Bewusst die Stimmung verfolgen
Danach fragt mein Vogel Lola mich, wie es mir geht. Ich kann meine Stimmung auf einem Spektrum von Gewitterwolke bis Sonnenschein angeben. Ich tippe die Sonne hinter der kleinen Wolke an – schliesslich ist es Montag.
Während Thomas Berger die Affirmationen in der App kritisch sieht, findet er Stimmungstracking gut. Aber: Die Erfassung der Stimmung allein reicht nicht aus. «Vielmehr sollte das Moodtracking dazu dienen, Zusammenhänge zwischen Stimmungen, Gedanken und Verhaltensweisen zu erkennen und gezielt zu verändern.»
Sehe ich, dass ich am Dienstag immer gut gelaunt bin, kann ich versuchen, zu verstehen, woher diese gute Stimmung kommt, und es an anderen Tagen auch umsetzen. «Es entsteht ein positiver Kreislauf», sagt Berger.
Auf, auf, kleiner Vogel
Das sind nur die ersten paar Minuten. Sobald ich die Affirmation und das Moodtracking wegklicke, kommt meine Hauptseite. Hier habe ich die Checkliste meiner Gewohnheiten, Lolas Steckbrief, den Shop und das Belohnungs-Dashboard. Es gibt Aktivitätspunkte und eine Belohnung für jede Handlung.
Aus dem Bett bin ich bereits gekommen, die Zähne putze ich gleich. Bei jedem Quittieren summt und klingelt es, meine Dopamin-Rezeptoren freuts. Ich erhalte Finch-Points, mit denen ich Lola Kleidung kaufen kann und Möbel, um ihre virtuelle Wohnung auszustatten.
Es ist bunt, es ist schrill und es ist sehr süss. «Das Design spricht vermutlich eher eine junge, weiblich sozialisierte Zielgruppe an», sagt Pascal Streule (29). Er ist wissenschaftlicher Assistent an der ZHAW in der Fachgruppe Medienpsychologie und tüftelt dort selbst an digitalen Unterstützungen für die Psyche. «Dennoch denke ich, dass es einen sehr niederschwelligen Zugang zu Selbstpflege bietet. Die meisten haben ein Smartphone.»
Grundsätzlich bewertet er die App positiv: «Es ist eine Möglichkeit, aus dem Smartphone heraus Handlungen in der realen Welt zu bewirken.» Doch er ist auch skeptisch, denn gerade die Funktionen, die vergänglich sind – wie die limitierten Kleidungsstücke für den Vogel – können eine Abhängigkeitssituation herbeiführen und damit Stress.
Auch die Funktion, welche die Tage zählt, die ich am Stück mit Lola interagiere – genannt Streak – sieht er zweischneidig. Einerseits braucht es, um Gewohnheiten zu ritualisieren, eine gewisse Regelmässigkeit, und der Anreiz eines Streaks kann das bewirken.
Andererseits sind Personen, die vielleicht schnell zu Suchtverhalten oder Perfektionismus neigen, davon getriggert, und es führt zu Druck. «Das verzerrt dann die Motivation, ich öffne die App nicht mehr, weil ich Selbstpflegeaufgaben erfüllen möchte, sondern nur um den Streak zu erhalten», so Streule.
Der therapeutische Ansatz fehlt
Noch kritischer betrachtet Thomas Berger die App. «Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass diese spezifische App funktioniert.» Auch ist kein Therapieansatz erkennbar, auf der sie aufgebaut ist. «Digitale Unterstützung in der Therapie ist hilfreich. Damit die Tools aber nachhaltig greifen, müssen sie empirisch erprobt sein und einen wirksamen Therapieansatz verfolgen.»
Bereits heute kommen solche Apps zum Einsatz, beispielsweise im Rahmen von «Blended Psychotherapy», der Kombination von Sprechzimmertherapie und der Nutzung von Apps. Der Patient bearbeitet zwischen den Sitzungen therapeutische Inhalte, füllt Fragebogen und Stimmungstracker aus. Die Therapeutin kann dies vor der Sitzung dann einsehen und in der Stunde mit ihm besprechen. «Die Forschung zeigt uns, dass digitale Tools am wirksamsten sind, wenn sie menschlich begleitet werden, ansonsten werden sie häufig nicht ausreichend genutzt.»
Auch hier reihe ich mich wieder in die Statistik ein. Zwar habe ich mir immer nur das kleinste Ziel vorgenommen – einen Zwei-Tages-Streak –, dennoch habe ich es in den zwei Monaten Testphase nur dreimal tatsächlich geschafft, es einzuhalten. Und kurz vor dem Einschlafen schnell noch ein Glas Wasser trinken, Yoga machen und die Zähne putzen, einfach um alles abhaken zu können, war wohl auch nicht im Sinn der Hersteller.