«Absolute Beginner»
Bald 30 und noch nie Sex

Menschen, die auf die 30 zugehen und noch nie Sex hatten, werden als «Absolute Beginner» bezeichnet. Viele schämen sich für ihre Unerfahrenheit. Eine Expertin erklärt, wie sie den Weg zu einem erfüllten Sexual- und Liebesleben finden.
Publiziert: 12:11 Uhr
|
Aktualisiert: 13:42 Uhr
Teilen
Schenken
Anhören
Kommentieren
Laut der Expertin ist es nicht die fehlende Erfahrung selbst, die «Absolute Beginner» belastet, sondern etwas anderes.
Foto: Shutterstock

Darum gehts

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
fabienne_eichelberger.jpeg
Fabienne EichelbergerFreie Journalistin Service-Team

«Mit jedem Jahr ohne Sex schrumpfte mein Selbstbewusstsein, und irgendwann liess es sich nicht mehr leugnen: Ich war übriggeblieben», erzählt Julia im Magazin der «Süddeutschen Zeitung». Warum es einfach nicht klappen wollte mit der Liebe in ihren Zwanzigern, konnte Julia, die heute fast fünfzig ist, nicht sagen. Genau wie der 27-jährige Leon, wie er in der «Welt» erzählt. Im Alltag – er studiert Mathematik und Informatik, ein eher männerlastiger Studiengang – lernt er kaum Frauen kennen, auf Dating-Apps erlebt er nur Frust. Menschen wie Julia und Leon nennt man «Absolute Beginner».

Schweizerinnen und Schweizer haben durchschnittlich mit 17 Jahren zum ersten Mal Sex. In ihren Zwanzigern führen viele die ersten Liebesbeziehungen, und bis zum 25. Altersjahr haben die meisten Menschen sexuelle Erfahrungen gesammelt. Bei etwa 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung ist das nicht der Fall. Die Sexual- und Paartherapeutin Ariane Speck fasst die Definition jedoch etwas weiter. Sie sagt: «Absolute Beginner sind nicht einfach Menschen, die mit Mitte 20 noch keinen Sex hatten.» Entscheidend sei weniger das Alter, sondern vielmehr das persönliche Erleben und der unerfüllte Wunsch nach Beziehung, Nähe oder Sexualität. Sie sehe in ihrer Praxis Frauen und Männer, die 30, 40 oder älter sind. «Manche hatten schon sexuelle Kontakte, aber nie eine romantische Beziehung, oder umgekehrt.»

Die meisten würden mit Mitte 20 beginnen, sich Gedanken zu machen. Während Gleichaltrige Beziehungserfahrungen sammeln, haben sie das Gefühl, «hintendran» zu sein. Das kann zu Druck und Verunsicherung führen – muss es aber nicht. «Es gibt auch Menschen, die bewusst entscheiden und erst spät Erfahrungen machen», stellt Ariane Speck klar. 

Erfolgreich und attraktiv, aber oft unsicher

Handelt es sich nicht um eine bewusste Entscheidung, sind gemäss Studien häufig Schüchternheit, soziale Ängste, ein zurückhaltendes Temperament oder neurodivergente Merkmale die Ursache dafür, weshalb jemand zum «Absoluten Beginner» wird. 

Grundsätzlich gelte aber: «Absolute Beginner gibt es in allen Varianten.» Wer sie sich etwa generell als unattraktiv oder verschroben vorstelle, liege völlig falsch. «In meiner Praxis treffe ich Menschen, die mitten im Leben stehen, erfolgreich sind und ein stabiles Umfeld haben», sagt Ariane Speck. Was sie aber tatsächlich häufig beobachte, sei eine Unsicherheit im Kontakt mit anderen Menschen. 

Ariane Speck ist Sexual- und Paartherapeutin mit eigener Praxis in Zürich und Affoltern am Albis.
Foto: Amanda Nikolic

Viele stellen sich ein und dieselbe Frage: «Stimmt mit mir etwas nicht?» «Oft ist es nicht die fehlende Erfahrung selbst, die sie belastet, sondern das Gefühl, abgehängt oder anders zu sein», erklärt die Expertin. Hinzu komme die Scham: «Sie denken, sie schaffen nicht, was für andere selbstverständlich ist: Flirten, der erste Kuss, Sex.» 

Mit den Jahren wird die Scham grösser und die Unsicherheit wächst. Einige «Absolute Beginner» ziehen sich deshalb zurück und vermeiden Dates. Andere suchen offensiv nach einem Partner oder einer Partnerin. Ein typisches Verhaltensmuster gibt es allerdings nicht. 

Therapie schafft Erleichterung

Wird der Leidensdruck zu gross und schränken Unsicherheit und Scham das Leben ein, ist es sinnvoll, professionelle Hilfe zu suchen. «Schon das Gespräch kann entlastend sein», sagt Ariane Speck. Viele trügen ihr «Geheimnis» jahrelang mit sich herum, bis es immer schwieriger werde, sich jemandem anzuvertrauen. «Darüber reden zu dürfen, gehört und verstanden zu werden, ist für viele eine grosse Hilfe», sagt die Sexualtherapeutin. In einem weiteren Schritt gelte es, abzuklären, in welchen Bereichen Unterstützung nötig ist. Entscheidend ist gemäss Ariane Speck, «die eigene Geschichte zu verstehen, Gefühle einzuordnen und Schritt für Schritt Vertrauen in sich selbst sowie in Nähe, Beziehung und Sexualität zu entwickeln». Vor allem älteren Unerfahrenen könne die Surrogat-Partner-Therapie helfen. Ariane Speck bietet sie nicht selbst an, hat sie aber schon einigen Betroffenen empfohlen. Dabei begleiten speziell ausgebildete Ersatz-Partnerinnen oder -Partner die Betroffenen in einem geschützten Rahmen und ermöglichen ihnen erste Schritte in Sachen Nähe und Intimität.

Haben «Absolute Beginner» einen Partner oder eine Partnerin gefunden – oder jemanden, mit der oder dem sie sich eine intime Beziehung vorstellen können – rät die Sexualtherapeutin zu Offenheit. Sie betont: «Wer seine Unerfahrenheit teilt, signalisiert Ehrlichkeit und schafft Nähe.» Oft würden die Partnerinnen und Partner sehr verständnisvoll reagieren. Zudem gelte: «Unerfahrenheit ist nichts Peinliches, sondern schlicht ein Teil der eigenen Geschichte.»

Unterstützung durch erfahrene Partner

Möchten Partnerinnen und Partner ihren «Absolute Beginner» unterstützen, dann sollen sie Geduld zeigen und keinen Druck aufbauen. Sie sollen zuhören und nachfragen. Gleichzeitig müssen sie sich aber nicht komplett zurücknehmen. «Auch die erfahrenere Person darf ihre Bedürfnisse einbringen», so Ariane Speck. Für die unerfahrene Person könne es hilfreich sein, wenn sie die Sicherheit und Gelassenheit des Partners oder der Partnerin spürt. 

Allerdings muss man sich auch bewusst sein, dass mit dem ersten Sex nicht schlagartig alles anders wird. «Für manche ist er ein grosser Schritt, doch Ängste und Unsicherheiten verschwinden damit nicht automatisch», erklärt Ariane Speck. Aber: «Sexualität und das Führen einer Beziehung sind Dinge, die man Schritt für Schritt lernen kann.» 

Julia ist heute übrigens verheiratet und Mutter. Sie war 29, als sie erstmals Sex hatte, mit 38 lernte sie ihren Mann kennen, mit Anfang 40 kam ihr Kind zur Welt. 

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?
Heiss diskutiert
    Meistgelesen
      Meistgelesen