Leonie über ihre Magersucht
«Ich hatte die letzte Würde verloren»

BLICK druckt exklusiv Auszüge aus dem Magersucht-Buch «Federleicht» der Zürcherin Leonie (20). Heute schildert sie, wie sie im Spital zum ersten Mal zwangsernährt wird.
Publiziert: 25.09.2012 um 14:07 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 00:51 Uhr
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Leonie mit 17: Wenn sie in den Spiegel sah, fühlte sie sich immer noch dick.
Foto: Philip Dolder

Eines Morgens, als ich gewogen wurde, kam der grosse Schock. Die Krankenschwester blickte mich mitfühlend an und sagte leise: «Nun wird es passieren – 30 Kilo.» Mein Gewicht war auf der Gewichtskurve in den untersten Balken gerutscht. In den Balken, der bedeutete, dass man eine Magensonde bekam und zwangsernährt wurde. Angst, Panik, Wut, Verzweiflung, eine Wucht an Emotionen überkam mich. Die Vorstellung, mein Gewicht nicht mehr selbst steuern zu können, war nicht nur unheimlich, es war der blanke Horror.

Kurz vor Mittag kamen die Krankenschwester und ein Assistenzarzt in mein Zimmer. Es war klar, dass sie mir nun die Sonde legen würden. Schon als ich den Schlauch und das ganze Material sah, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Die Sonde wurde mir durch die Nase geführt und dann durch die Speiseröhre direkt in den Magen. Alle erzählten mir, dass das Legen der Sonde etwas unangenehm, aber überhaupt nicht schmerzhaft sei. Oh doch, es war schmerzhaft. Den Kopf hielt ich nach hinten gebeugt und musste stillhalten. Als der Assistenzarzt den Schlauch einzuführen begann, spürte ich jeden Nerv in der Nase. Ich wollte weinen und flüchten, stattdessen hielt ich mich krampfhaft am Bettgestell fest. Es fühlte sich an, als ob sie meinen Kopf durchbohren wollten.

Die letzte Würde verloren

Als die Magensonde dann endlich richtig lag, wurde sie mit Klebeband an meinem Gesicht befestigt. Beim Schlucken spürte ich einen stechenden Schmerz, als ob eine riesige, spitze Nuss in meinem Hals stecken würde. Mein Kopf begann zu dröhnen, und ich fühlte mich steif wie ein Stock. Am liebsten hätte ich den Schlauch einfach wieder herausgerissen und wäre schreiend nach Hause gerannt. Künstlich ernährt zu werden, war für mich unglaublich beschämend. Nun hatte ich auch noch die letzte Würde verloren. (...)

Einige Tage später ging es mir besser. Die schweren Tage waren bereits vergessen, und die Anorexie gewann erneut an Macht. Es war sehr schwierig, mich und mein Gewicht auszuhalten, da ich mit der Sonde schnell zunahm. (...)

Am 23. November 2009 hatte ich das Mindestgewicht von 34 Kilo erreicht und galt als therapiefähig. So wurde ich eine Woche später aus dem Regionalspital entlassen und in eine Klinik überwiesen, die auf die Behandlung von Anorexia nervosa und Bulimie spezialisiert ist. (...)

Die stationäre Therapie tat manchen Patientinnen und ihren Angehörigen gut, mir aber leider nicht. Es gelang mir noch immer nicht wirklich, meine Magersucht anzuerkennen. Ich fühlte mich in der Gruppe nicht aufgenommen und einsam. Mit dem Essen in der Klinik hatte ich grosse Mühe, und ich sehnte mich sehr nach meiner Familie und meinem Zuhause.

Der Ekel vor dem Essen

Zu essen bekamen wir das, was gesunde Menschen so essen: Brot, Käse, Konfitüre, Butter, Salat – mit Öl an der Sauce! –, Quark, Desserts. Da ich in der ersten Phase schon die halbe Portion nicht schaffte, erhielt ich dieselbe Menge auch noch in der zweiten.

Ich fürchtete mich so sehr vor dem Essen. Ich wollte es nicht einmal ansehen, fühlte mich vom Geruch angewidert und weigerte mich oft, auch nur einen Bissen anzurühren. Manchmal überkamen mich die Angst und der Ekel vor dem Essen so sehr, dass ich am Tisch zu weinen begann. Ich konnte einfach nicht. Ich schöpfte mir meist etwas von der Bouillon, die mir aber schon wegen der Fettaugen Mühe bereitete. Dann würzte ich sie mit schwarzem Pfeffer, bis mein Hals vor Schmerzen brannte. (...)

In dieser Zeit des Klinikaufenthaltes machte ich keine Fortschritte und zeigte mich von meiner sturen Seite. Ich verlor wieder an Gewicht, fühlte mich traurig und verlassen. (...)

Doch dann geschah etwas: Einige Mädchen und ich gingen zu einer Weihnachtsfeier im nahen Spital. Wir sassen in einem kleinen, warmen Saal, der mit Hunderten roten Weihnachtssternen und einem grünen Tannenbaum geschmückt war, der silbern und golden funkelte. Leise Harfenmusik spielte im Hintergrund. Auf einem kleinen Podest stand ein Priester, der von Schutzengeln erzählte und allen Patienten Mut zu machen versuchte. Im Raum standen viele Stühle, doch bloss auf jedem zehnten sass jemand. Die meisten sahen traurig und krank aus. Der Raum war voll Verzweiflung und Wehmut.

Ich schämte mich in Grund und Boden

Und dann trat mitten in der Predigt ein Mann herein. Er war gross, kahlköpfig und trug ein langes Patientengewand mit einem Mundschutz. Er schob einen Infusionsständer mit sich, an den mindestens sieben Schläuche angehängt waren. Sein Körper war dürr und sein Gesicht blass. Doch seine Augen strahlten vor Lebenswillen und Mut. Er setzte sich fünf Stühle neben mich und hörte der Predigt zu.

Da sassen wir magersüchtige Mädchen nun neben einem krebskranken Mann. Einem Mann, der mit ganzer Kraft versuchte zu überleben. Ich schämte mich in Grund und Boden. Ich hatte die Chance zu leben und nutzte sie dennoch nicht.

Diese Begegnung rüttelte mich einmal mehr wach, und nach all den vielen Therapie-Wochen begann ich mich nun mit dem Gedanken und vor allem dem Wunsch auseinanderzusetzen, wirklich gesund zu werden.

Lesen Sie morgen: Leonie bricht zu Hause zusammen, ihr kleiner Hund Coco rettet ihr Leben.

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Die Autobiografie der Zürcherin Leonie (20),

Etwa 250 000 Menschen erkranken zumindest einmal im Leben an Magersucht, Bulimie oder einer ähnlichen Essstörung. Frauen, meist junge, sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Leonie (heute 20) schildert in einer eindrucksvollen Autobio­grafie («Federleicht»), die am Freitag erscheint, ihren Kampf gegen die Magersucht. Das 1,57 Meter grosse Mädchen wäre fast gestorben. Leonie wog zeitweise weniger als 30 Kilo und fühlte sich immer noch fett.

Leonie hat die Krankheit, die Sucht besiegt. Ihr Buch ist auch ein Appell an andere Magersüchtige und deren Angehörige, nicht aufzugeben. Anorexia nervosa, so der medizinische Fachbegriff, ist ein mächtiger Feind, aber nicht unbesiegbar!

Leonie ist heute als Flug­begleiterin tätig. Der Traum vom Fliegen war Teil der letzten Hoffnung, als sie dem Tod näher war als dem Leben.

Im ersten Teil unseres Vorabdrucks schildert Leonie, wie sie unbemerkt in die Magersucht rutschte. 

Das Buch «Federleicht – Wenn nichts glücklich macht» von Leonie mit einem Vorwort von Bestsellerautor und Kinderarzt Remo H. Largo erscheint im Wörterseh Verlag (184 Seiten, Fr. 34.90). Es ist ab 28. September im Handel. BLICK bringt in einer Serie ab morgen exklusive Auszüge.
Das Buch «Federleicht – Wenn nichts glücklich macht» von Leonie mit einem Vorwort von Bestsellerautor und Kinderarzt Remo H. Largo erscheint im Wörterseh Verlag (184 Seiten, Fr. 34.90). Es ist ab 28. September im Handel. BLICK bringt in einer Serie ab morgen exklusive Auszüge.

Etwa 250 000 Menschen erkranken zumindest einmal im Leben an Magersucht, Bulimie oder einer ähnlichen Essstörung. Frauen, meist junge, sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Leonie (heute 20) schildert in einer eindrucksvollen Autobio­grafie («Federleicht»), die am Freitag erscheint, ihren Kampf gegen die Magersucht. Das 1,57 Meter grosse Mädchen wäre fast gestorben. Leonie wog zeitweise weniger als 30 Kilo und fühlte sich immer noch fett.

Leonie hat die Krankheit, die Sucht besiegt. Ihr Buch ist auch ein Appell an andere Magersüchtige und deren Angehörige, nicht aufzugeben. Anorexia nervosa, so der medizinische Fachbegriff, ist ein mächtiger Feind, aber nicht unbesiegbar!

Leonie ist heute als Flug­begleiterin tätig. Der Traum vom Fliegen war Teil der letzten Hoffnung, als sie dem Tod näher war als dem Leben.

Im ersten Teil unseres Vorabdrucks schildert Leonie, wie sie unbemerkt in die Magersucht rutschte. 

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