Pünktliche vs Zuspätkommer
Wer hat mehr vom Leben?

Unsere Autorin ist pünktlich. Sie muss ständig auf die Unpünktlichen warten. Wer ist im Recht? Zeit für eine Betrachtung einer Schweizer Tugend.
Publiziert: 28.04.2025 um 11:21 Uhr
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Aktualisiert: 28.04.2025 um 11:49 Uhr
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In der Schweiz ist die Uhrzeit besonders wichtig: Hier zählt Pünktlichkeit.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • 2024 war das pünktlichste Jahr bei den SBB. Das passt zur Schweiz
  • Pünktlichkeit hat mit Effizienz zu tun – und Stress
  • Unpünktliche Kulturen leben mehr im Jetzt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft

Freitagabend um kurz vor halb neun in Zürich. Gleich bin ich mit einer Freundin verabredet. Ich ignoriere die Tischchen im Café und setzte mich an die Bar, wir bleiben ja nur kurz, bald fängt der Film im Kino nebenan an. Ich bestelle ein Glas Weissen und versuche, so zu tun, als würde ich nicht auf die Tür starren. Schwierig. Ich schaue aufs Handy. Ah. «Du, es wird viertel vor. Sorry.» Ich like die Nachricht meiner Freundin. Scrolle durch Instagram. Die Wetter-App. Notiere im Kalender: Wäsche aus der Waschküche holen. 20.45 Uhr. Keine Spur von ihr. 20.50 Uhr. Sie. Kommt. Nicht. In mir brodelt es. Der Film fängt gleich an. Ich zahle. Um 20.54 Uhr schreibe ich: «Ich habe mich von der Bar zum Kino 2 bewegt.» Zehn Minuten später stürzt sie im Kino zur Tür herein und umarmt mich. «Sorry! Ich habe noch jemanden getroffen.»

Das ist mein Los: Warten. Mich gedulden. Mich aufregen. Ich bin überpünktlich. Und bei einigen meiner Freunde (immer die gleichen!) guck ich in die Röhre. Stehe ich fünf, zehn Minuten früher da, schlurfen sie zwanzig, dreissig Minuten zu spät um die Ecke. Lieber würde ich am Morgen auf einen Kaffee verzichten, als sie sitzen zu lassen. «Bünzli» – höre ich es jetzt flüstern. Ja, und? Liege ich, die Pünktlichkeitsfanatikerin, so falsch? Sind es nicht eher die notorischen Zuspätkommerinnen? Muss ich lockerer werden? Oder sie disziplinierter?

Eine Schweizer Ikone: Die SBB-Uhr.
Foto: Keystone

Eine Schweizer Tugend

Vielleicht ist meine Freundin eine Widerständlerin in einem Land, das das Zuspätkommen so scheut wie Marilyn Monroe zu Lebzeiten das Zufrühkommen. Nicht umsonst versorgen wir Schweizer die Welt mit Uhren. Ihre Zeiger takten unser Leben. Ihr Rhythmus steckt in unserer DNA. In unseren Zugfahrplänen. Unsere Züge sind die pünktlichsten in ganz Europa. Vergangenes Jahr stellten die SBB einen neuen Rekord auf: 93,2 Prozent aller Züge kamen genau dann an, wann sie sollten. Das geht besser, fand CH Media und veröffentlichte eine Analyse von 24 Millionen Stopps an Bahnhöfen, um – jetzt kommts – zu zeigen, wo es noch hapert. 

Wäre die Pünktlichkeit eine Person, sie wäre wohl Peter Füglistaler. 14 Jahre lang amtete er als Direktor des Schweizer Bundesamts für Verkehr – bis Sommer 2024. Als in den letzten Jahren die Züge der Deutschen Bahn massiv zu spät über die Grenze trudelten, liessen wir manche nicht mehr ins Land. Füglistaler musste mit den deutschen Verkehrschefs ein ernstes Wörtchen reden. ARD, ZDF, WDR und «Süddeutsche Zeitung» – die Journalistinnen pilgerten zu ihm, wollten wissen: Wie macht ihr das? Nun, ein Jahr danach, erreichen wir ihn in Bern am Telefon, der Rummel hat sich gelegt. Er klingt so entspannt wie nach einer Woche Meditationsretreat. Jetzt muss er nicht mehr so häufig pünktlich irgendwo sein wie früher. «Ich habe Zeit, ich bin pensioniert.» Wie blickt er auf den Schweizer Pünktlichkeitsspleen?

Peter Füglistaler im Jahr 2022.
Foto: EPA

«Die Schweizer Bevölkerung reagiert sensibel auf Verspätungen», sagt er und schiebt sofort nach: «Das finde ich richtig.» Gerade die Bahn zeige, dass Pünktlichkeit für Verlässlichkeit stehe. Das passe zu uns als Alpenstaat, zum Service-public-Gedanken, dem Anspruch: «Wir wollen, dass ihr uns gut versorgt.» Das hat was. Sind die Züge unpünktlich, stämpfelen die Leute auf dem Bahnsteig, und bei den SBB hagelt es Beschwerdemeldungen. Wir identifizieren uns viel zu stark mit der Bahn. Sie ist unser Seismograf dafür, wie es um unsere Tugend steht. Um unser Land. Doch seien wir ehrlich: Das ist stressig. 

Es geht auch anders. In Südamerika, Afrika, oder Südostasien spüren wir das. Die Menschen schlendern, anstatt zu hetzen, die Uhrzeit ist weniger wichtig. Dieser Unterschied im Verhältnis zur Pünktlichkeit lässt sich erklären. Studien zeigen: Die Bevölkerungsdichte spielt eine Rolle. Das Leben in stark besiedelten Gebieten und in Städten ist komplex, greift ineinander und muss gut aufeinander abgestimmt sein. Damit verbunden ist ein weiterer Treiber: die Industrialisierung. Lange richteten sich Bauer und Bäuerin nach Sonne und Wetter. Das änderte sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts. Fabriken kamen auf, mit ihnen Massenproduktion, Arbeitsteilung. Aus Bauern wurden Arbeiter. Sie schufteten in einem gleichförmigen Rhythmus, der allerhöchste Produktivität abverlangte. Erst da wurde Zeit für sie zum Faktor. Auch die Uhrzeit. Zumal gleichzeitig die Uhr zum Massenartikel wurde.

Die Bahn steht für eine Schweizer Tugend.
Foto: Keystone

Im Hier und Jetzt

Warte ich auf meine Freundin, schaue ich stakkatoartig auf das digitale Zifferblatt meines Telefons. Ich frage mich: Hat ihre Unpünktlichkeit mit mir zu tun? Bin ich ihr nicht wichtig? Vielleicht liegt es mehr an ihrem Verhältnis zur Zeit. Vielleicht ist das bei ihr anders. Wir setzen uns am Zürichsee auf eine Bank. Ein Debriefing. Sie winkt sofort ab, ihr Zuspätkommen habe nichts mit fehlendem Respekt zu tun. Sie denkt kurz nach, sagt dann: «Ich unterschätze ständig, was wie viel Zeit erfordert.»

Meine Freundin nimmt sich viel vor. Am Samstag zum Beispiel. Nach dem Aufwachen geht sie die To-dos durch: Am Morgen will sie für eine Party am Abend einen Kuchen backen, doch um 10 Uhr kommt der Sprachschüler für eine Deutschstunde vorbei. Am Nachmittag will sie ihrem Göttibub einen Ballon vorbeibringen, muss ihn vorher in einem Spielzeugladen aufblasen lassen. «Verdammt», flucht sie, «war die Warteschlange an der Kasse lang.» Ich denke: logisch! Samstag! Nichts geht auf. Schon am Morgen weist der Sprachschüler sie scheu darauf hin, dass sie überzieht. Zum Göttibub kommt sie viel zu spät. Am Abend muss sie mit dem flüssigen Kuchenteig zur Freundin fahren und ihn dort backen. Nun, am Zürichsee, tippt sie sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. «Voll bescheuert.» 

Marc Wittmann forscht zum Thema Zeitempfinden am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg. Bei der Anekdote mit dem Sprachschüler horcht er auf. Seine Einschätzung: «Erlebnisorientiert.» Dies ist einer von zwei Typen der Zeitwahrnehmung – der andere ist der Uhrzeit orientierte. Wittmann hat dazu geforscht. Er sagt: «Ihre Freundin gehört wohl zu jenen Menschen, die stark von dem absorbiert sind, was sie gerade tun.» Sie achten nicht auf die Zeit. Sie nehmen die Minuten und Stunden, die vergehen, als kürzer wahr. Und sie verschätzen sich. Fangen etwas an, weil sie glauben, es noch locker zu schaffen, natürlich scheitern sie. Auch ihr prospektives Gedächtnis ist schlecht. Nehmen sie sich am Morgen vor, um 18 Uhr die Grossmutter anzurufen, erinnern sie sich dann nicht. 

Der Zeitforscher Marc Wittmann.
Foto: zvg

Ein bisschen mehr Indonesien

All das passt auf meine Freundin. Sie ist nicht allein damit, doch in der Schweiz in der Minderheit. Und das ärgert sie manchmal, sagt sie: «Wir in der Schweiz sind mit unserer Pünktlichkeit analfixiert.» Also: neurotisch, zwanghaft. Ich fühle mich ertappt. Bin ich zu spät dran, schwitze ich in industriellen Mengen, als erwischte man mich gerade bei einem Ladendiebstahl. Ich war schon lockerer. In Indonesien, wo ich einst für eine Weile lebte. Steckt man dort im Stau, bleibt man gelassen. Braucht man einen Arzt, geht man direkt zur Praxis, keine Anmeldung, nichts.

Durch Indonesien zieht sich der Äquator. Das macht etwas mit den Menschen, sie leben mehr im Moment. Dies fand der US-Psychologe Robert Levine heraus. Er hatte in 31 Ländern zum Zeitempfinden geforscht und kam im Buch «A Geography of Time» zum Schluss: Je weiter eine Kultur vom Äquator entfernt ist, desto mehr ist sie von den Jahreszeiten abhängig. Skandinavier müssen die warmen Monate besonders gut nutzen, sie müssen für den Winter Vorräte anlegen. Sie sind zukunftsorientierter, planen mehr, die Uhrzeit strukturiert ihre Tage. So wie bei uns. 

Der Alltag in der Schweiz ist durchgetaktet, die Freizeit durchgeplant. Spontan muss man hier wenig wollen. Nicht so bei meiner Freundin. Würde ich sie heute fragen, ob wir morgen ans Meer fahren – sie käme. Würde ihren Laptop einpacken und von unterwegs arbeiten. Meine Freundin erlebt viel. Viel mehr als alle anderen, die ich kenne. Vielleicht macht sie es richtig. Vielleicht täte uns das gut: mehr Unpünktlichkeitstoleranz, mehr leben.

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