Leere in Corona-Zeiten
Mut zur Langeweile!

Corona zwingt uns zur Langeweile. Das tut ganz schön weh, weil wir nicht mehr damit umgehen können. Dabei sollten wir jetzt die Zeit nutzen, sagt die Psychologin Verena Kast. Finden wir heraus, was uns wirklich erfüllt im Leben.
Publiziert: 25.04.2020 um 14:16 Uhr
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Aktualisiert: 03.05.2020 um 11:41 Uhr
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Im Alltag verdrängen wir sie, in der Coronazeit spüren wir sie umso mehr: Die Langeweile.
Foto: Kyle Thompson/VU/laif
Rebecca Wyss

Zuerst machten wir uns Sorgen, dann hatten wir Panik, und jetzt wird uns langweilig. Irgendwann haben wir die Arbeit im Homeoffice erledigt, die hundertste Netflix-Folge geguckt. Wir fühlen uns gefangen in einem langgezogenen Jetzt, weil die Zukunft ungewiss und alles, was war, für das Jetzt gerade keine Rolle spielt. Wir sitzen in der Wartehalle. Und damit können wir schlecht umgehen.

Der Wiener Hirnforscher Bernd Hufnagl (51) sieht das in seinen Experimenten. Seit den frühen Nullerjahren misst er die Fähigkeit der Menschen, abzuschalten. Über 60'000 Freiwillige haben sich bei ihm schon in einen leeren Raum gesetzt und fünf Minuten lang aus einem Fenster geschaut. Wird ein bestimmter Nerv im Hirn aktiv, zeigt das: Sie entspannen sich. Vor 15 Jahren konnten das 30 Prozent, «und wir waren schockiert», sagte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. 2018 waren es nur noch fünf Prozent.

Langeweile schadet der Gesundheit

Hufnagls Fazit: «Jede erzwungene Auszeit empfinden wir als Störung von etwas, als unangenehme, ineffiziente Unterbrechung.» Am Arbeitsplatz ist es die Pause oder die Ferien, die unseren Arbeitsrhythmus durcheinanderbringen. Im Alltag werden wir hibbelig, wenn die Kaffeemaschine zu lange braucht oder wenn ein Autofahrer auf der Strasse vor uns bummelt. Wir sind ständig ungeduldig, weil schon der Gedanke an Langweile uns fertigmacht.

Langeweile ist uns verhasst, so sehr, dass sie uns sogar schaden kann, wie kanadische Neuropsychologen nachgewiesen haben. Wenn wir uns langweilen, können wir unsere Aufmerksamkeit kaum auf etwas richten, unser Herz schlägt schneller, und der Spiegel des Stresshormons Cortisol steigt.

Warum hadern wir so damit?

Wir halten inne und rufen in St. Gallen Verena Kast (77), ehemalige Psychologieprofessorin, renommierte Autorin und Psychologin mit eigener Praxis, an. Die gebürtige Appenzellerin nimmt sich vor dem nächsten Termin Zeit für uns.

Sie hat dem Thema ein Buch gewidmet und weiss: «Die Menschen fühlen sich nutzlos in der Langeweile.» Sie nagt am Selbstwertgefühl. Gerade in einer Zeit, in der man interessant zu sein hat, mit ausgefallenen Hobbys und einem fordernden Job. Leere Zeit ist nicht gut fürs Image. «Heute sind viele ständig damit beschäftigt, die Langeweile abzuwehren.»

Wir rennen ihr davon

Wir flüchten in die Ablenkung. In die Abenteuerreisen um den Globus, in den Sport, ins Nachtleben und in die emotionale Belohnung durch Likes und Emojis, die nur ein Klick entfernt sind. Das fängt schon bei den Kleinsten an, von denen Eltern heute erwarten, dass sie ihr individuelles Tagespensum mit Schule, Musikunterricht, Sportverein, Kirchengemeinde oder Theater abspulen. Diese Möglichkeiten fallen derzeit weg.

Andere treibt die Flucht in die Selbstzerstörung. In den Alkohol, in die Drogen oder ins übermässige Essen, das belegen verschiedene Studien. In einem US-Experiment führten sich zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen sogar bewusst selber Schmerzen zu. Sie ertrugen es nicht, 15 Minuten lang ohne Ablenkung auf einem Stuhl zu sitzen, und drückten einen Knopf, um sich einen Stromstoss zu verpassen.

Vielleicht ging es ihnen auch einfach um den Kick. Das kennen wir alle.

Strafrechtler der Universität Zürich haben bei jugendlichen Tätern im Kanton St. Gallen beobachtet, dass Langeweile sie zu Gewalttaten getrieben hat. In bis zu einem Viertel der Fälle war das das Hauptmotiv. Das spüren wir auch in diesen Corona-Zeiten, in den Lokalzeitungen häufen sich Meldungen über Vandalenakte von Jugendlichen.

Langeweile hatte mal ein gutes Image

Das körperliche Leiden, die Rastlosigkeit, die Verbrechen – all das wäre gar nicht nötig, wenn wir nur wieder lernen würden, mit der Langeweile umzugehen. Unsere Vorfahren konnten das ziemlich gut. Weil Langeweile als positiv galt.

Für die christlichen Eremiten in der Antike, die in der Wüste in Monotonie und Einsamkeit lebten, gehörte sie selbstverständlich zum Menschen. Vor allem die einfache Langeweile, das Warten, das zu göttlichen Eingebungen führen konnte. Zu verhindern war nur die existenzielle Langeweile, die das Leben sinnlos erscheinen lässt – heute ähnlich einer Depression. Sie wurde von den Katholiken als «Acedia» – Trägheit – in den Katalog der sieben Todsünden aufgenommen.

Später war es ganz normal, dass sich die Bauern und Handwerker langweilten, wenn am Sonntag der Gottesdienst vorbei war und alles stillstand. Das war von Gott so gewollt. In der jüdischen Tradition, die den Ruhetag Sabbat kennt, weiss man auch warum: Nur in einer Ruhe, in einer Pause kann man das Leben voll sehen und deuten.

Nach dem Mittelalter fingen die grossen Philosophen an, die Langweile schlechtzuschreiben. Der Mensch fühle «in der vollkommenen Ruhe», schrieb Blaise Pascal (1623–1662), «sein Nichts, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere». Immanuel Kant (1724–1804) bezeichnete sie als «Vorgefühl eines langsamen Todes».

Die Männer gaben im Grunde nur wieder, was um sie herum geschah. Die Kopernikanische Wende, der wissenschaftliche Fortschritt, die Industrielle Revolution und die Arbeitsteilung – all das pflügte die Gesellschaft um. Es führte zu Freizeit und Wohlstand. Der Preis, den wir alle dafür zahlten, war die Langeweile, das Innehalten. Denn ohne Arbeit und Beschleunigung ist all das nicht zu haben, glauben wir.

Wir leben an uns selbst vorbei

Heute spüren wir sie kaum mehr, wir haben sie verdrängt. In Umfragen geben immer wieder viele an, keine Langeweile zu kennen. Das tut dem Wirtschaftssystem gut, nicht aber uns selbst. In den Bücherläden stapelt sich die Selbsthilfeliteratur, weil so viele Menschen nicht glücklich sind.

Um das zu ändern, bräuchte es Langeweile, ist Verena Kast überzeugt. «Überlassen wir uns ganz der Langeweile, kommen Fantasien und Träume zu uns, die uns in der Regel schon eine Sehnsucht oder ein Interesse anzeigen», sagt Verena Kast. Und da können wir ansetzen.

Oft, so die Psychologin, leben wir nämlich an unseren wahren Neigungen vorbei. Mehr noch, wir unterdrücken sie und legen uns Vorzeige-Interessen zu. Wir spielen Golf, weil es die Kollegen tun, wir bereisen das überfüllte Bali, weil all die hippen Blogger dort leben, oder wir gehen einer Arbeit nach, die uns jeden Tag unterfordert. Bis zum Bore-out.

Nur wenn wir das tun, was uns wirklich interessiert, in dem wir wirklich aufgehen, fühlen wir uns wertvoll.

Zeit, innezuhalten

Das sollten wir uns jetzt zu Herzen nehmen. «Bei all den schrecklichen Folgen, die die Corona-Krise noch haben wird, ist die Pandemie-Zeit auch eine Chance», sagt Kast.

Jetzt können wir uns langweilen, unseren Geist wandern lassen und unserer Neugier nachspüren: mit einem Stift die eigenen Fantasien und Träume aufschreiben. Den Partner einmal fragen: Langweilst du dich auch so wie ich? Und Eltern gibt Kast den Tipp, den Tag ihrer Kinder nicht zu verplanen. «Geben Sie ihnen das Gefühl, dass es in Ordnung ist, sich zu langweilen. Das gehört dazu. Die finden schnell wieder etwas, das sie interessiert.»

Im besten Fall machen wir es so wie der Naturwissenschaftler Isaac Newton (1643–1727). Auch er sass fest, weil 1665 in England die Pest wütete. Zwei Jahre lang musste er sich in der Einöde seines Heimatorts selber beschäftigen, weil seine Universität geschlossen hatte. Die kreativste Zeit seines Lebens. Im Garten seiner Eltern sah er einen Apfel vom Baum zu Boden fallen – das inspirierte ihn zum Gravitationsgesetz.

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