Eine Kinderpsychologin über die Auswirkungen von Corona
«Krisen sind für Kinder eine Chance»

Die Vorweihnachtszeit fällt heuer mitten in die zweite Corona-Welle. Was das mit Kindern macht, haben wir Kinderpsychologin Susanne Walitza gefragt. Sie Direktorin der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Publiziert: 15.11.2020 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 05.04.2021 um 22:59 Uhr
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Die Kinderpsychologin Susanne Walitza erklärt im Interview, welchen Einfluss die jetzige Krise auf Kinder hat. Und wir lassen auch Kinder erzählen ...
Foto: Keystone
Interview: Lea Ernst

Frau Walitza, wie wichtig sind Traditionen wie Räbeliechtli-Umzug oder Samichlaus für Kinder?
Susanne Walitza: Traditionen vermitteln Sicherheit und Geborgenheit – insbesondere in Zeiten, in denen sich vieles verändert. Deshalb sind sie für Kinder so wichtig.

Wie stark leiden Kinder darunter, dass sie wegen Corona auf ebendiese Traditionen oder andere Gewohnheiten wie Hobbys verzichten müssen?
Das hängt ganz davon ab, inwiefern der Verzicht dem Kind verständlich gemacht wird und ob er ausgeglichen werden kann. Fällt zum Beispiel ein sportliches Hobby komplett weg, kann das zu deutlichen Folgeerscheinungen führen, wenn sich keine Alternative findet. In die Zeit des ersten Lockdowns fielen ja auch jährliche Traditionen wie Ostern. In unseren eigenen Untersuchungen haben ehemalige Patienten unserer Klinik dies unerwartet gut verarbeitet – vor allem dann, wenn sie viel Zeit draussen mit ihrer Familie verbringen konnten. Etwas schwieriger wird es, wenn kein Ende von Massnahmen absehbar ist.

Was ist für Kinder während der Corona-Krise besonders problematisch?
Eine Pandemie belastet besonders die sozialen Beziehungen von Kindern, die für ihre Entwicklung sehr wichtig sind. Insbesondere sehr junge Kinder können persönliche Treffen über soziale Medien nicht ausgleichen.

Inwiefern können Alternativen wie Online-Veranstaltungen über das Fehlen persönlicher Kontakte hinwegtrösten?
Weil Traditionen so wichtig sind, ist es essenziell, dass sie nicht einfach verdrängt werden durch die Pandemie, sondern umgewandelt, vielleicht auch neu belebt werden. Weil wir unseren Kindern signalisieren, dass diese gemeinsamen Traditionen uns so wichtig sind, dass wir nach Alternativen suchen, messen wir ihnen grosse Bedeutung bei. So können sich die Kinder weiterhin in den Traditionen verwurzelt fühlen und die aktuellen Herausforderungen besser annehmen.

Susanne Walitza – Persönlich

Susanne Walitza (51) ist seit 2008 ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Vorher arbeitete sie in der Universitätsklinik von Würzburg (D), wo sie nach ihrer Spezialisierung als Kinder- und Jugendpsychiaterin auch in der Forschung tätig war. Walitza hat einen 13 Jahre alten Sohn und drei Patenkinder.

Susanne Walitza (51) ist seit 2008 ärztliche Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Vorher arbeitete sie in der Universitätsklinik von Würzburg (D), wo sie nach ihrer Spezialisierung als Kinder- und Jugendpsychiaterin auch in der Forschung tätig war. Walitza hat einen 13 Jahre alten Sohn und drei Patenkinder.

Ist es möglich, dass sich Kinder wegen Corona vernachlässigt fühlen, weil die Eltern gerade andere Probleme haben?
Auch das ist eine Frage des Ausmasses: Wenn Kinder lernen zu akzeptieren, dass sie nicht immer im Mittelpunkt stehen, ist diese Erfahrung hilfreich für ihre Entwicklung. Wenn jedoch kein Raum für ihre Sorgen und Gefühle bleibt, so werden sie vernachlässigt.

Kann ein Kind eine weltweite Pandemie nachvollziehen?
Kinder bemerken die Auswirkungen der Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Sie benötigen Informationen, die zu ihrem Alter und Entwicklungsstand passen. Jüngere Kinder benötigen klare und beruhigende Worte. Schulkinder brauchen mehr Informationen, zumal sie schon ein Konzept von Krankheit, aber auch Sterben und Tod entwickelt haben. Hilfreich ist es, dem Kind Fragen zu stellen. So kann man erfahren, was es über die Pandemie schon weiss und was es noch wissen möchte, um so keine Inhalte zu vermitteln, die das Kind überfordern könnten.

Wie äussert sich Stress bei Kindern?
Das ist individuell sehr unterschiedlich. Einige reagieren mit Müdigkeit, Nervosität, Unruhe oder Ängstlichkeit. Andere eher mit körperlichen Symptomen wie Bauch- und Kopfschmerzen. Wieder andere sind gereizt oder gar aggressiv. Einige zeigen plötzlich Verhaltensweisen, die nicht mehr altersgemäss sind, wie zum Beispiel erneutes Einnässen oder extreme Anhänglichkeit. Im Wesentlichen hängt das Wohlbefinden der Kinder davon ab, wie ihre Eltern und andere Bezugspersonen mit der Pandemie und ihren Einschränkungen umgehen.

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Also überträgt sich der Corona-Stress der Eltern auf die Kinder?
Der Umgang der Eltern mit Stress hat generell einen wesentlichen Einfluss auf das Wohlbefinden unserer Kinder. Deshalb ist es wichtig, dass wir Erwachsene lernen, mit Stress, mit unseren Sorgen und unserer Hoffnungslosigkeit umzugehen, um somit auch unseren Kindern zu vermitteln, dass es möglich ist, Stress zu bewältigen.

Kann eine Krise wie Corona für Kinder sogar eine Chance sein?
Wenn es möglich ist, den Kindern trotz Sorgen und Ängsten Sicherheit und Zuversicht zu vermitteln und ihnen zu zeigen, wie man mit Krisen und ungewohnten Situationen umzugehen lernt, kann sie der Stress auch stärken. Manchmal möchten wir gerne vergessen, dass Leben Veränderung bedeutet. Aber eine Kindheit ist nicht dann gut, wenn es keine Probleme, Krisen oder Schwierigkeiten gibt, sondern wenn es möglich ist, diese Krisen zu bewältigen. Dann können unsere Kinder durch diese Krise erfahren, dass das Leben nicht nur aus Erfolgen und Vorhersehbarem besteht, sondern dass man lernen kann, damit umzugehen.

Was können Eltern sonst noch tun, um das Kind an den neuen Corona-Alltag zu gewöhnen?
Zuhören, verstehen, auffangen – so könnte man eine wichtige Aufgabe der Eltern und anderer Bezugspersonen zusammenfassen. Es ist wichtig, dass wir als Eltern versuchen, die Sorgen unserer Kinder zu erkennen und Raum für Gespräche zu haben. Es ist wichtig, die Gefühle unserer Kinder ernst zu nehmen und sie zuzulassen. Nur so können sie lernen, mit ihnen umzugehen. Aber es darf sich nicht alles nur um die Pandemie drehen. Spiele, Entspannung, Spass, gemeinsam lachen – das darf nicht fehlen. Es geht nicht nur um Einschränkungen, sondern auch darum, trotz allem gemeinsam eine möglichst schöne Zeit zu gestalten. Dazu gehört zum Beispiel auch, das Kind vor zu intensiver Medienberichterstattung zu schützen.

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