Die ständige Angst vor Krankheit
«Hypochondrie ist eine ernste psychische Störung»

Wer hinter jedem Kopfweh einen Hirntumor vermutet, wird öfter als Hypochonder belächelt. Dabei beeinträchtigt Hypochondrie nicht nur das eigene Leben, sondern auch das des Umfeldes. Aber wie bemerkt man sie? Und was kann man dagegen tun? Ein Experte erklärt.
Publiziert: 11:37 Uhr
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Aktualisiert: 13:13 Uhr
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Wenn Menschen schon beim kleinsten Kopfweh an einen Gehirntumor denken, leiden sie möglicherweise unter Hypochondrie.
Foto: Getty Images

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Maja ZivadinovicFreie Journalistin Service-Team

Leichte Kopfschmerzen, ein Ziehen im Brustkorb, Schwindel: Für die meisten Menschen sind das erst einmal harmlose Symptome, die schnell wieder vergehen. Andere hingegen geraten in eine Spirale aus Sorge, Internetrecherche und der festen Überzeugung, ernsthaft erkrankt zu sein. Hypochondrie, heute als «Krankheitsstörung» bezeichnet, ist ein Phänomen, das durch die ständige Angst vor einer schweren Krankheit geprägt ist.

Wie erkennt man, wann aus normaler Sorge eine behandlungsbedürftige Störung wird? Und wie geht die Psychiatrie mit einem Leiden um, das sich der Logik entzieht? Joe Hättenschwiler, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich, gibt Auskunft.

Blick: Herr Hättenschwiler, was versteht man unter Hypochondrie?
Eine psychische Störung, bei der Menschen eine ausgeprägte und anhaltende Angst haben, schwer krank zu sein oder zu werden – obwohl es keine oder nur minimale medizinische Befunde gibt. Betroffene deuten harmlose Empfindungen als Anzeichen für eine schwere Erkrankung. Diese Sorgen bestehen trotz wiederholter ärztlicher Untersuchungen und beruhigender Befunde fort. Entsprechende ärztliche Rückversicherungen führen in der Regel nur zu einer kurzfristigen Beruhigung, bevor die Angst erneut auftritt oder sich auf eine andere Krankheit verlagert.

Wie verhalten sich Betroffene?
Typisch ist, dass sie entweder sehr häufig ärztliche Hilfe aufsuchen oder Arztbesuche vollständig vermeiden – aus Angst, eine schlimme Diagnose zu erhalten. Die ständige gedankliche Beschäftigung mit der vermeintlichen Krankheit verursacht erheblichen psychischen Stress und kann das soziale und berufliche Leben stark beeinträchtigen. 

Sind mehr Frauen oder Männer betroffen?
Während einige Studien eine gleichmässige Verteilung feststellen, deuten andere darauf hin, dass Frauen tendenziell häufiger betroffen sind. Das könnte unter anderem daran liegen, dass sie öfter über gesundheitliche Ängste sprechen und eher medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Zudem weisen sie generell höhere Raten bei Angststörungen und Depressionen auf.

Dr. med. Joe Hättenschwiler ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Chefarzt und Medizinischer Leiter des Zentrums für Angst- und Depressionsbehandlung in Zürich.

Wie belastet Hypochondrie den Alltag?
Bei starker Ausprägung kann die Angst vor einer plötzlichen schweren Erkrankung so dominieren, dass zum Beispiel Urlaubsreisen als unzumutbares Risiko empfunden werden. Betroffene vermeiden Auslandstrips, weil sie befürchten, dort im Notfall keine ausreichende medizinische Versorgung zu erhalten oder sich sprachlich nicht verständigen zu können. Solche oder ähnliche Ängste führen oft zu Rückzug, sozialer Isolation und einem erheblichen Verlust an Lebensqualität. 

Wirkt sich Hypochondrie auch auf eine Beziehung aus?
Ja, sie kann eine Partnerschaft belasten. Ständige Sorgen um die Gesundheit, häufige Arztbesuche oder die wiederkehrende Suche nach Beruhigung durch den Partner oder die Partnerin können zu emotionaler Erschöpfung führen. Manche fühlen sich überfordert, hilflos oder zunehmend in die Rolle eines Therapeuten gedrängt. Das kann zu Spannungen und Missverständnissen führen. Umso wichtiger ist es, offen über die Ängste zu sprechen, klare Grenzen zu setzen und gegebenenfalls gemeinsam therapeutische Unterstützung zu suchen.

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Oft wird Hypochondrie gesellschaftlich belächelt ...
Sie lässt sich nicht durch objektiv messbare Befunde erklären. Während körperliche Erkrankungen sichtbare Symptome oder eindeutige Diagnosen liefern, beruhen hypochondrische Beschwerden vor allem auf innerer Angst – was oft fälschlicherweise als Einbildung abgetan wird. Die ständige Sorge führt bei Aussenstehenden oft zu Unverständnis oder genervter Reaktion. Dabei handelt es sich um eine ernstzunehmende psychische Störung, die grossen Leidensdruck verursacht. Mehr Aufklärung ist nötig, um dieses Krankheitsbild zu entstigmatisieren und Betroffenen mit der gleichen Empathie zu begegnen wie bei jeder anderen Erkrankung auch.

Kann man Hypochondrie therapieren?
Sie lässt sich mit kognitiver Verhaltenstherapie meist wirkungsvoll behandeln oder in schweren Fällen zumindest deutlich lindern. Betroffene lernen dabei, ihre Gedankenmuster zu erkennen, hinterfragen und körperliche Symptome realistischer einzuordnen. Ergänzend helfen oft Entspannungsverfahren oder Achtsamkeitstraining. In schweren Fällen kann auch eine medikamentöse Unterstützung sinnvoll sein. Wichtig ist vor allem, dass die Beschwerden ernst genommen und frühzeitig therapeutisch begleitet werden.

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