Volkskrankheit Schmerz
Oh weh!

Stechend, drückend, brennend: Chronische Schmerzen quälen alleine in der Schweiz über eine Million Menschen. Die Volkskrankheit führt zu Medikamentenmissbrauch – ein Umdenken tut not.
Publiziert: 30.08.2020 um 12:47 Uhr
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Aktualisiert: 31.08.2020 um 11:31 Uhr
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Die US-amerikanische Lyrikerin Lisa Olstein (48) leidet seit 1997 an Migräne.
Foto: zvg
Daniel Arnet

«Jeder Schmerz ist einfach. Und jeder Schmerz ist komplex.» Mit diesen zwei scheinbar widersprüchlichen Sätzen beginnt das neue Buch «Weh» der US-Amerikanerin Lisa Olstein (48). Olstein weiss allerdings genau, worüber sie schreibt, denn sie leidet seit Jahren an Migräne. Und die verursacht einfach Kopfweh, ist aber äusserst komplex in Beschreibung und Behandlung.

«Lässt das Licht des Erwachens den dunklen Frühmorgenschädel zersplittern, oder erwacht der Schädel durch sein Zersplittern zu einem dunklen Frühmorgen?», schreibt Olstein poetisch über ihre Panik vor dem Aufstehen. Als gefeierte Lyrikerin weiss sie ihr erbarmungsloses Leiden in schonungslos-schöne Worte zu fassen. Ihre Sprachbilder sind anschaulich und eindringlich.

«Heute Morgen ist wieder ein Morgen, an dem ich in den Schmerz hinein erwache», schreibt sie. «Die linke Braue wie eine Prellung unter einem drückenden Daumen, wie ein überreifer Pfirsich, in den sich versehentlich ein Finger bohrt; eine Porzellanvase in einem Schraubstock, der nach und nach zugedreht wird, nichts als Lärm und schräges Echo. Manchmal fährt irgendwo ein Stemmeisen dazwischen, Metall auf Metall.» Autsch, das knirscht! Das tut weh!

Jährlich eine Billion Dollar volkswirtschaftlichen Schaden weltweit

Weltweit leiden zehn bis 15 Prozent an Migräne, wobei Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Bei der neuesten Gesundheitsbefragung des Bundes von 2017 gaben 7,9 Prozent der Schweizerinnen an, starke Kopfschmerzen zu haben, bei den Schweizern sind es 3,3 Prozent. Nimmt man die 29,5 Prozent Frauen und 21,1 Männer dazu, die monatlich «ein bisschen» Schädelbrummen verspüren, dann leidet hierzulande jede Dritte beziehungsweise jeder Vierte daran.

Noch stärker zwicken gemäss dieser Befragung Schultern, Nacken und Arme (32,2 Prozent der Männer, 44,8 Prozent der Frauen) sowie Rücken und Kreuz (38 Prozent der Männer; 48,6 Prozent der Frauen). Damit rangieren unter den fünf häufigsten körperlichen Beschwerden nicht weniger als drei peinvolle. Und hält ein Schmerz länger als drei Monate an, gilt er als chronisch – davon sind in der Schweiz mehr als 1,3 Millionen Menschen betroffen.

Schmerz ist also nicht bloss eine Begleiterscheinung, sondern eine Volkskrankheit. Die jährlichen wirtschaftlichen Kosten durch seine medizinischen Behandlungen, Produktivitätseinbussen und Ausgleichszahlungen für Arbeitsunfähigkeit belaufen sich alleine in der Schweiz auf 4,3 bis 5,8 Milliarden Franken. In allen entwickelten Ländern und Industriestaaten zusammen geht man von einer Billion Dollar aus.

Schaden durch Schmerz? Dabei entwickelte die Evolution den Schmerz zur Schadensbegrenzung vor heftigen mechanischen, thermischen oder chemischen Reizen. Der Tritt auf einen spitzen Stein, der Griff nach heissem Metall führt beim Menschen automatisch zum Beugereflex: Man zieht Fuss beziehungsweise Hand vom schmerzenden Gegenstand zurück, um noch mehr Schaden zu vermeiden. Ein Schutz- und Fluchtreflex.

Das Rückenmark entscheidet, ob Schmerz ins Bewusstsein kommt

Wer leidet, muss eine sichtbare Wunde haben. Der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) prägt dieses Bild mit seiner Schrift «De Homine» (1662), in der er für Schmerzen durch Verletzungen folgenden Vergleich anstellt: «Ebenso wie man in dem Augenblick, in dem man an dem Ende eines Seilzuges zieht, die Glocke zum Klingen bringt, die an dem anderen Ende hängt.» Schmerzen als Warnsignal im Kopf.

Die Alarmglocke läutet über 300 Jahre lang, bis sie 1965 die Kontrollschrankentheorie zum Verstummen bringt: Ein kanadischer Psychologe und ein britischer Neurobiologe finden heraus, dass das Rückenmark entscheidet, wann ein Schmerzreiz bis ins Gehirn und damit ins Bewusstsein vordringen darf. Der direkte Seilzug ist zerschnitten: Ein erstes Neuron (Nervenzelle) übermittelt den Reiz zum Rückenmark, ein zweites weiter zum Thalamus (Zwischenhirn) und von dort ein drittes zur Grosshirnrinde.

Der Schmerz ist folglich das, was der Kopf draus macht. So empfindet ein Schlafender keine Qual, weil das dritte Neuron in diesem Zustand inaktiv ist und keine Signale weiterleitet. Und im Moment höchster Konzentration oder im Schockzustand kann der Mensch eine offensichtliche Wunde mit dem körpereigenen Drogenlabor unterdrücken. Andererseits können Körperstellen wehtun, die weder bluten noch Brüche aufweisen und äusserlich vollkommen intakt scheinen, wie etwa bei einer Migräne.

Die 1973 gegründete International Association for the Study of Pain (IASP, Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes) legt 1979 folgende Definition vor: «Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebeschädigung einhergeht oder von betroffenen Personen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache.»

Männer erinnern sich stärker an Schmerz

Auch wenn er hier auf einen Nenner gebracht ist, eines ist klar: DEN Schmerz gibt es nicht. Schon die Wissenschaft unterscheidet zwischen einer stechenden, drückenden und brennenden Sinnesqualität. Und wer bei der wortmächtigen und migränegepeinigten Lisa Olstein nachschaut, bekommt die ganze Pein-Palette vorgelegt und erkennt, wie persönlich Schmerzempfinden ist.

«Dumpf, spitz, pochend, brennend, wund, stechend, konzentriert, diffus», listet Olstein die Arten auf und quantifiziert: «Vereinzelt, gelegentlich, intermittierend, häufig, andauernd, schwach, mässig, stark, gib-mir-den-Strick.» Trotz oder vielleicht wegen der schwindelerregend vielen Spielarten, als die wir Schmerz konzipieren und kategorisieren (geschweige denn erleben), gelinge es uns bemerkenswert schlecht, darüber zu reden, auch im wörtlichen Sinn wie: «Haben Sie Schmerzen, wie sehr, wo, welcher Art?»

Obwohl Männer weniger über Schmerzen klagen, sind sie nicht weniger empfindlich als Frauen. Ganz im Gegenteil, wie eine neue wissenschaftliche Studie der McGill University im kanadischen Montreal zeigt. 41 Männer und 38 Frauen zwischen 18 und 40 Jahren hatten dafür einen Brennreiz am Arm auf einer Skala von 1 bis 100 zu bewerten. Tags darauf mussten die Probanden dieselbe Prozedur über sich ergehen lassen und nochmals eine Wertung abgeben.

Resultat: Während Frauen den Schmerz in beiden Tests ähnlich bewerteten, empfanden ihn Männer am Folgetag intensiver, einige sogar doppelt so stark. Die Forscher schliessen daraus, dass die Erinnerung an den Schmerz vom Vortag die Männer empfindlicher machte – die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von Schmerzgedächtnis, das es zur Linderung zu überlisten gilt. Das vermeintlich starke Geschlecht ist also nicht hart im Nehmen.

Missbrauch von Schmerzmittel auf Opioidbasis nimmt weltweit zu

Mit einem weiteren Vorurteil räumte das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig (D) vor einem Monat auf: Die klobschädligen und grobschlächtig wirkenden Neandertaler (vor 230'000 bis 30’000 Jahren) waren sensibler als wir heutigen Menschen. Das zumindest legt eine wissenschaftliche Untersuchung des Ionen-Kanals aus dem Neandertaler-Genom nahe, der für das erste Drittel der Schmerzweiterleitung entscheidend ist.

Laborversuche zeigen, dass bei den Ionen-Kanälen der Neandertaler ein schwächerer Impuls reicht, um eine elektrische Nervenerregung an Zellen auszulösen. Entsprechend ist die Schmerzschwelle niedriger – ein geringer Reiz reicht bereits für eine unangenehme Empfindung. Dieser Befund bestätigte sich bei heutigen Probanden aus Grossbritannien, die eine solche Neandertaler-Variante im Erbgut haben: Sie sind schmerzempfindlicher als andere Europäer.

Schmerz, lass nach! Allein in Grossbritannien steigt die Verfügbarkeit von starken Schmerzmitteln auf Opioidbasis zwischen 2013 und 2016 um 67,8 Prozent, wie eine Ländervergleichsstudie belegt, welche die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) letztes Jahr veröffentlichte. Während Grossbritannien nun den OECD-Durchschnitt markiert, liegt die Verfügbarkeit solcher Mittel in der Schweiz weit höher – unser Land ist in den Top Ten mit Spitzenreiter USA.

Dass hohe Verfügbarkeit mit hohem Konsum einhergeht, zeigt der grassierende Missbrauch von opioiden Schmerzmitteln in den USA, wovor die OECD eindringlich warnt. Auch in der Schweiz hat sich der Bezug von solchen Schmerzmitteln allein in den Jahren 2006 bis 2013 mehr als verdoppelt, wie eine Analyse von Krankenkassendaten ergab. In dieser Zeit fand bei uns allerdings ein Anschauungswandel statt, hin zur Vorstellung vom Recht auf ein schmerzfreies Leben.

Geteiltes Leid ist halbes Leid

Denn die physische Versehrtheit hat psychische Folgen: 50 Prozent chronischer Schmerzpatienten entwickeln Depressionen. Wie fragt sich Migräne-Patientin Lisa Olstein voller Bangen zu Beginn des Artikels: «Lässt das Licht des Erwachens den dunklen Frühmorgenschädel zersplittern?» Die Angst führt zu weiteren Verspannungen und Schmerzen – ein Teufelskreis. Allerdings wollen Mediziner den nicht mehr primär medikamentös, sondern mental brechen: Ein anderes Denken über den Schmerz tut not.

Auf andere Gedanken kommt man nur schon, wenn man nicht einsam im Kämmerchen über den eigenen Schmerz nachgrübelt, sondern ihn mit anderen teilt, indem man sich mitteilt. Denn: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Nicht zufällig machten im Mittelalter Barbiere aus dem Zahnziehen eine öffentliche Jahrmarktgaudi, bei der das Publikum mitleiden durfte.

Adam und Eva sind mythologisch gesehen nach dem Biss in den Apfel der Erkenntnis das erste gemeinsam leidende Paar. Nach dem Sündenfall verdonnert Gott Adam: «Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen.» Und zu Eva sagt er: «Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären.»

Der Schweizer Philosoph Hans Saner (1934–2017) nimmt dieses biblische Bild auf, wenn er schreibt: «Wir werden in Schmerzen geboren, durch Schmerzen erzogen, und wir fürchten, in Schmerzen sterben zu müssen.» Doch ist ein schmerzfreies Leben überhaupt erstrebenswert?

In Nordpakistan lebt der Qureshi-birdari-Clan, der einen Gendefekt aufweist, weswegen ein Ionenkanal keine Schmerzsignale weiterleitet. In Strassentheatern stechen sich die Angehörigen zum Ergötzen des Publikums Messer in Arme und Beine, ohne dass es ihnen wehtut. Ein Knabe der Familie springt gar von einem Hausdach – und stirbt vor seinem 14. Geburtstag. Keine Schmerzen zu empfinden, bedeutet eben nicht, dass man unsterblich ist.

Lisa Olstein, «Weh – über den Schmerz und das Leben», Hanser

So sieht chronischer Schmerz aus

Er steht am Anfang jedes Lebens und ist später im Alltag ein überlebenswichtiges Warnsignal: Der Schmerz. Wenn man aber wie 1,3 Millionen Schweizer täglich darunter leidet, ist er unerträglich.

Wie entstehen  chronische Schmerzen?

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Er steht am Anfang jedes Lebens und ist später im Alltag ein überlebenswichtiges Warnsignal: Der Schmerz. Wenn man aber wie 1,3 Millionen Schweizer täglich darunter leidet, ist er unerträglich.

Wie entstehen  chronische Schmerzen?

Chronische Schmerzen

Was sind chronische Schmerzen?

Der Schmerz wird zu einer Krankheit, wenn das zentrale oder das periphere Nervensystem gestört wird. Der chronische Schmerz unterscheidet sich vom Akuten indem er seine eigentliche Warnfunktion verliert. Der akute Schmerz deutet auf eine Verletzung oder Krankheit hin und hilft die Symptome zu erkennen und diese zu bekämpfen. Bei chronischen Schmerzen senden die Nervenzellen Impulse an das Gehirn, auch wenn kein Schmerzreiz mehr vorhanden ist.

Ab wann kann man von chronischen Schmerzen sprechen?

Der chronische Schmerz wird zur Krankheit, wenn die Schmerzen länger als drei bis sechs Monate andauern. Zu den häufigsten Formen gehören Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, rheumatische Schmerzen  oder neuropathische Schmerzen. Die häufigsten Ursachen chronischen Schmerzes sind Erkrankungen wie Arthrose, Bandscheibenvorfälle, Migräne oder rheumatoide Arthritis.

Behandlung von chronischen Schmerzen

Immer mehr Menschen greifen bei chronischen Schmerzen zu Schmerzmitteln, doch diese haben schwere Nebenwirkungen und helfen nicht immer. Es gibt viele alternative Behandlungen, welche von Neurobiologen, Psychologen und Soziologen vertreten sind und einen neuen Blick auf das Phänomen Schmerz erlauben. Die moderne ganzheitliche Schmerztherapie behandelt sowohl die körperlichen als auch psychischen Aspekte.

Was sind chronische Schmerzen?

Der Schmerz wird zu einer Krankheit, wenn das zentrale oder das periphere Nervensystem gestört wird. Der chronische Schmerz unterscheidet sich vom Akuten indem er seine eigentliche Warnfunktion verliert. Der akute Schmerz deutet auf eine Verletzung oder Krankheit hin und hilft die Symptome zu erkennen und diese zu bekämpfen. Bei chronischen Schmerzen senden die Nervenzellen Impulse an das Gehirn, auch wenn kein Schmerzreiz mehr vorhanden ist.

Ab wann kann man von chronischen Schmerzen sprechen?

Der chronische Schmerz wird zur Krankheit, wenn die Schmerzen länger als drei bis sechs Monate andauern. Zu den häufigsten Formen gehören Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, rheumatische Schmerzen  oder neuropathische Schmerzen. Die häufigsten Ursachen chronischen Schmerzes sind Erkrankungen wie Arthrose, Bandscheibenvorfälle, Migräne oder rheumatoide Arthritis.

Behandlung von chronischen Schmerzen

Immer mehr Menschen greifen bei chronischen Schmerzen zu Schmerzmitteln, doch diese haben schwere Nebenwirkungen und helfen nicht immer. Es gibt viele alternative Behandlungen, welche von Neurobiologen, Psychologen und Soziologen vertreten sind und einen neuen Blick auf das Phänomen Schmerz erlauben. Die moderne ganzheitliche Schmerztherapie behandelt sowohl die körperlichen als auch psychischen Aspekte.

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