Darum gehts
Seit einiger Zeit ist die Abnehmspritze für übergewichtige Menschen verfügbar. Das Ziel ist, Folgeschäden von Übergewicht wie ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko, Diabetes, Bluthochdruck oder Tumorerkrankungen zu reduzieren. Während viele mit der Therapie bereits Erfolge erzielt haben, berichten andere von einem geringen Gewichtsverlust, schlechter Laune und fehlender Freude am Essen. Das könnten die Gründe sein:
Gene und Stoffwechsel
«Dass manche Menschen weniger gut auf die Abnehmspritze ansprechen, liegt vor allem an genetischen und stoffwechselbedingten Unterschieden», sagt Annic Baumgartner, stellvertretende leitende Ärztin der Endokrinologie am Kantonsspital Aarau. Der Wirkstoff in der Abnehmspritze ist eine synthetische Nachempfindung des Hormons GLP-1 aus dem Magen-Darm-Trakt. Die Rezeptoren für dieses Hormon seien an vielen verschiedenen Organen und im Hirn verteilt, so die Expertin. «Wie gleichmässig die einzelnen Rezeptoren verteilt sind und wie stark sie stimuliert werden, kann höchstwahrscheinlich von Person zu Person variieren.» Auch die metabolischen Prozesse, die durch die Stimulation dieser Hormone ausgelöst werden, könnten individuell ablaufen. Es lasse sich nicht voraussagen, wer gut auf die Abnehmspritze anspreche und wer nicht. «Es zeigt sich aber, dass die modernen Wirkstoffe bei mehr Patienten und besser wirken, als ihre Vorgänger.»
Lebensstil
Die Veränderung des Lebensstils sei das A und O, um einen möglichst grossen Effekt mit der Abnehmspritze zu erzielen, sagt Baumgartner. «Die Medikamente sind keine Wundermittel. Sie helfen, das Gewicht um 10 bis 15 Prozent zu reduzieren.» Menschen mit weniger starkem Übergewicht hätten so die Chance, ihren BMI wieder in den Normalbereich zu bringen. Damit das Gewicht nach der Behandlung dauerhaft niedrig bleibe, seien nachhaltige Veränderungen im Lebensstil notwendig. «Bei stark übergewichtigen Personen führt die Therapie zwar häufig zu einem Gewichtsverlust, doch das Normalgewicht wird meist nicht erreicht», so die Expertin. Deshalb sei es hier umso wichtiger, den Lebensstil anzupassen.
Wenn der gewünschte Erfolg mit der Abnehmspritze bei stark übergewichtigen Personen ausbleibt, sollten laut Baumgartner auch alternative Therapien wie ein bariatrischer Eingriff in Betracht gezogen werden. «Operationen wie der Magenbypass oder der Schlauchmagen haben nach wie vor einen stärkeren Effekt auf die Gewichtskontrolle als es Medikamente allein leisten können.»
Wenn der gewünschte Erfolg mit der Abnehmspritze bei stark übergewichtigen Personen ausbleibt, sollten laut Baumgartner auch alternative Therapien wie ein bariatrischer Eingriff in Betracht gezogen werden. «Operationen wie der Magenbypass oder der Schlauchmagen haben nach wie vor einen stärkeren Effekt auf die Gewichtskontrolle als es Medikamente allein leisten können.»
Genussverlust
«Nur wenige erleben es als negativ, dass sie keine Lust mehr auf Genuss haben», sagt die Expertin. Im Gegenteil: Die meisten Patientinnen und Patienten würden dieses Phänomen als entlastend wahrnehmen. «Sie sind froh, dass sie sich nicht mehr ständig überlegen, was sie als Nächstes essen könnten und welche Lebensmittel noch im Kühlschrank liegen.» Diese oft unkontrollierbaren Gedanken an Essen nennt man laut Baumgartner Food Noise. Dieses Phänomen ist damit zu erklären, dass Essen bei übergewichtigen Personen eine viel stärkere biochemische Reaktion im Hirn auslöst als bei jemandem, der normalgewichtig ist. «Wenn Food Noise verschwindet, können Übergewichtige ein Lebensmittel sehen, das sie sehr gern haben, ohne sofort zu denken: Ich muss das jetzt unbedingt essen.»
Annic Baumgartner ist stellvertretende leitende Ärztin der Endokrinologie am Kantonsspital Aarau. Ihre Fachgebiete umfassen die allgemeine Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie sowie klinische Ernährung mit besonderem Fokus auf Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nach ihrem Medizinstudium an den Universitäten Basel und Strassburg (F) promovierte sie 2012 an der Universität Zürich. Sie ist unter anderem Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie.
Annic Baumgartner ist stellvertretende leitende Ärztin der Endokrinologie am Kantonsspital Aarau. Ihre Fachgebiete umfassen die allgemeine Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie sowie klinische Ernährung mit besonderem Fokus auf Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Nach ihrem Medizinstudium an den Universitäten Basel und Strassburg (F) promovierte sie 2012 an der Universität Zürich. Sie ist unter anderem Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie.
Psychische Gesundheit
Auch die Psyche könne die Wirkung der Abnehmspritze entscheidend beeinflussen, sagt Baumgartner. «Wenn die Betroffenen keine Energie mehr benötigen, um die ständigen Gedanken ans Essen abzuschütteln, ist das für sie eine völlig neue Erfahrung.» Diese innere Ruhe fördere die Bereitschaft, an der Therapie dranzubleiben, ungünstige Ernährungsmuster abzulegen und alternative Strategien zu lernen, um vor allem negative Gefühle nicht mehr mit Essen zu kompensieren. Gleichzeitig gebe es aber Menschen, die glauben, das Problem sei dann gelöst, und deshalb weniger engagiert weitermachen.
Bei übergewichtigen Menschen mit begleitender Depression kann sich die Abnehmspritze gemäss Expertin ebenfalls positiv auf die Psyche auswirken – abhängig von der individuellen Situation. «Während einer schweren depressiven Phase ziehen sich Betroffene oft zurück, verlassen kaum das Haus und nehmen häufig zu, weil ihnen gesunde Entscheidungen beim Essen schwerfallen.» Vor Einführung der Abnehmspritze sei neben den Selbstvorwürfen deshalb oft auch die Belastung durch die Gewichtszunahme hinzugekommen. «Die Abnehmspritze kann diesen Teufelskreis teilweise durchbrechen, indem sie die Gewichtszunahme verhindert oder reduziert.»
Gewöhnungseffekt
Ob die Wirkung der Abnehmspritze bei längerem Gebrauch nachlässt, wurde wissenschaftlich noch nicht untersucht. Gemäss Baumgartner gehen Fachpersonen von einem anderen Effekt aus: Die Wirkung lässt nicht wegen Gewöhnung nach, sondern weil der Körper hormonell gegensteuert. Denn im Hypothalamus, dem Bereich des Hirns, der das Körpergewicht reguliert, gibt es einen Zielwert fürs Gewicht. Dieser steigt mit der Gewichtszunahme an, sinkt aber kaum wieder ab. «Häufig meinen Patientinnen und Patienten, die das Gefühl haben, dass die Abnehmspritze bei ihnen nichts mehr bringt, dass sie bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abgenommen haben und ihr Gewicht danach stabil blieb», sagt die Expertin. Das sei der normale Therapieverlauf mit der Abnehmspritze: Den grössten Gewichtsverlust erzielt man im ersten Jahr, danach folgt eine Erhaltungsphase.
Hormonelle Veränderungen
Der Expertin zufolge gibt es noch keine belastbaren Daten, die darauf hinweisen, dass hormonelle Veränderungen – etwa in der Menopause – den Behandlungserfolg beeinträchtigen. «Klinische Erfahrungen zeigen, dass die Abnehmspritze auch in den Wechseljahren gut wirkt.» Wichtig sei eine sorgfältige gynäkologische Diagnostik, um zwischen Gewichtszunahme und anderen Symptomen des Hormonmangels zu unterscheiden und gegebenenfalls ergänzend Hormone zu nehmen, sagt Baumgartner. «Soweit ich weiss, läuft aktuell eine Studie der Universität Bern, die untersucht, ob eine Kombination aus hormoneller Ersatztherapie und GLP-1-Agonisten sinnvoll wäre, da viele Frauen in den Wechseljahren wegen der Stoffwechselveränderungen zunehmen.»