Vier Mal täglich wartet Marco Reinhard (26), bis die zwei Liter Dialyseflüssigkeit seinen Körper verlassen. Und zwei frische Liter wieder in ihn hineinströmen. Eine halbe Stunde dauert dies jeweils. Die Flüssigkeit ist klar, eine Zuckerwasserlösung, sie gelangt über einen Katheter in seine Bauchhöhle. Dort bleibt sie mehrere Stunden, entzieht dem Körper über das Bauchfell Giftstoffe. Ein Job, den seine Nieren erledigen sollten. Eigentlich.
Die Krankheit
Doch seine Nieren funktionieren nicht mehr. Marco Reinhard leidet an einem extrem selte-nen Gen-Defekt, dem Dent-Syndrom. Ein mutiertes Gen auf dem X-Chromosom sorgt dafür, dass die Nieren irgendwann versagen. Trägerin des Defekts war seine Mutter. «Ich bin derzeit der Einzige in der Schweiz mit dieser Krankheit», sagt er. Weltweit wurden bisher bloss wenige Hundert Fälle beschrieben.
Seit seiner Kindheit nahm die Leistung der Nieren langsam, aber stetig ab. Wann diese vollends ausfallen würden, wusste er nie genau. Es hätte in der Pubertät passieren können. Es geschah vergangenen Oktober. Ausgerechnet wenige Tage, bevor er den Arbeitsvertrag für eine neue Stelle hätte unterschreiben können.
Seither reinigt die Dialyse sein Blut. Und seither ist er arbeitslos. Die einzige Lösung, die ihm ein besseres, längeres Leben verschafft, ist eine Nierentransplantation. Doch in der Schweiz fehlt es an Spenderorganen, die Wartelisten werden immer länger. Ende 2014 standen laut Swisstransplant, der Nationalen Stiftung für Organspende und Transplantation, 1062 Menschen auf der Warteliste für Spendernieren. Bis ein Patient eine Niere erhält, wartet er im Schnitt über drei Jahre (siehe Box).
Der Entscheid
Und doch hat Marco seit Monaten einen Termin zur Transplantation: der 30. Januar. Sein Vater Bruno Reinhard (65) spendet ihm die dringend benötigte Niere. Zum zweiten Mal schenkt er seinem Sohn ein Leben.
Dass jemand von der Familie einspringen würde, um dem Sohn ein längeres Leben zu ermöglichen, auf diesen Moment hatten sich die Reinhards jahrelang vorbereitet. «Dass es einmal so weit kommt, sagten die Ärzte bereits bei der Diagnose von Marcos Krankheit», erzählt der Vater. Für die Schwester (24) wäre eine Spende ein zu grosses Risiko, sollte sie irgendwann schwanger werden. Weil die Mutter Trägerin des defekten Gens ist, kommt sie nicht in Frage. Der Vater also. «Meine Niere passt super», sagt er. «Fast wie bei einem Zwillingsbruder von Marco.»
Das zeigten die Untersuchungen. Schon vor Monaten liess er sich während zwei Tagen am Zürcher Universitätsspital gründlich überprüfen. Um sicherzugehen, dass er sich für eine Spende eignet – physisch wie psychisch. Für den Fall, dass die Spende nicht geklappt hätte, steht der Sohn seit Monaten auf der Organwarteliste.
«Von den Eltern eine Niere zu bekommen, ist das Beste, was man sich wünschen kann», sagt Marco Reinhard. Zu wissen, dass er nicht jahrelang an der Dialyse hängen muss, sei eine Erleichterung. Sein Vater ermöglicht ihm ein zweites Leben. «Ich brauche diese eine Niere nicht unbedingt», sagt der Vater. «Also, was solls! Aber wenn es nicht klappt, wäre das eine riesige Enttäuschung.»
Die Einlieferung
Einen Tag vor der Operation steigen die beiden vor dem Zürcher Universitätsspital aus dem Tram. Der Vater lag noch nie auf einem Operationstisch; zur Entnahme seiner eigenen Niere reist er mit dem ÖV an. Während der Fahrt sprechen beide kein Wort, ihre Mienen sind ernst. Sie sind nervös. «Ich weiss nicht, ob man sich auf so etwas überhaupt vorbereiten kann», sagt der Sohn. Beide schlafen im selben Spitalzimmer, der Vater hat es sich so gewünscht.
Ein letztes Mal werden sie untersucht, ein letztes Mal erklären ihnen die Transplantationschirurgen Olivier de Rougemont (35) und Christian Oberkofler (35) im Detail den Ablauf der Transplantation vom nächsten Tag. So wie bereits mehrere Male zuvor. Mit einem schwarzen Stift markieren sie bei Vater und Sohn die Stellen auf dem Oberkörper, an denen sie das Skalpell ansetzen werden. Und zeichnen beim Vater ein Kreuz auf der Körperseite, aus der seine Niere entnommen wird: rechts.
Die Chirurgen machen dem Vater noch einmal klar, dass er die Operation bis zum letzten Moment absagen kann. Sie wollen kein Risiko eingehen, ihn nicht unter Druck setzen. Denn der Eingriff geschieht aus seinem freien Willen.
«Wir operieren an einem gesunden Menschen», sagt Chirurg Oberkofler. «Normalerweise geht es unseren Patienten nach der Operation besser. Aber der Vater wird danach ein Leben lang Patient sein. Wir müssen daher perfekt arbeiten.»
In dieser Nacht kann der Sohn kaum schlafen.
Auf dem Weg zur OP
Die Pflegerinnen wecken den Vater um 7.15 Uhr. Seine Nervosität ist verflogen, er lächelt, macht sogar ein Witzchen. «Ich bin nicht mehr nervös, jetzt, wo die Prüfung auf dem Tisch liegt», sagt er. Die Pflegerinnen rollen sein Bett durch die Tür. Dort steht sein Sohn. «Bis später», sagt der Vater leise.
Wenige Minuten danach verschwindet er im Stockwerk F des Universitätsspitals hinter einer Schiebetür, der Schleuse, wie die Ärzte sie nennen. Dahinter bereiten sie ihn für die Operation vor. Und versetzen ihn in Narkose.
Es ist 8.30 Uhr. Der Vater liegt im Operationssaal. Grüne Tücher bedecken seinen Körper. Nur sein Bauch ist freigelegt. Auf eine Stelle leuchtet die Operationslampe hell. Dorthin, wo der Chirurg sogleich sein Skalpell ansetzen wird.
Bern – Die Warteliste für Spenderorgane wird immer länger: 1370 Personen warteten Ende 2014 laut Swisstransplant auf ein lebensrettendes Organ. Die Mehrheit (1062 Personen) benötigt eine Niere. Ende 2010 waren es noch 800 Personen. Eine Spenderniere erhielten im vergangenen Jahr 296 Personen, davon 120 von Lebendspendern. Im Schnitt sterben bis zu zwei Menschen pro Woche, weil sie vergeblich auf ein Organ warteten. Leichenspenden gab es im vergangenen Jahr nur 117. Organspendekarten: Swisstransplant.org
Bern – Die Warteliste für Spenderorgane wird immer länger: 1370 Personen warteten Ende 2014 laut Swisstransplant auf ein lebensrettendes Organ. Die Mehrheit (1062 Personen) benötigt eine Niere. Ende 2010 waren es noch 800 Personen. Eine Spenderniere erhielten im vergangenen Jahr 296 Personen, davon 120 von Lebendspendern. Im Schnitt sterben bis zu zwei Menschen pro Woche, weil sie vergeblich auf ein Organ warteten. Leichenspenden gab es im vergangenen Jahr nur 117. Organspendekarten: Swisstransplant.org