Darum gehts
- Chronotherapie könnte Überlebenschancen bei Hautkrebs verdoppeln, Berna Özdemir plant Studie
- Geschlechterspezifische Medizin berücksichtigt biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen
- Über 80 Prozent der klinischen Krebsforschung werden von der Pharmaindustrie finanziert
Viel braucht es vermutlich nicht. Lässt man sich morgens statt abends therapieren, könnte sich die Überlebenschance bei Patienten mit Hautkrebs verdoppeln.
Vermutlich. Könnte.
Zwei Unsicherheiten, die Berna Özdemir (43) ausräumen will. Die Onkologin am Berner Inselspital fragt: Gilt bei Hautkrebs – was eine chinesische Studie für Lungenkrebs zeigt –, dass Immuntherapien morgens verabreicht deutlich wirksamer sind als abends?
Vor fünf Jahren kam Özdemir ans Berner Inselspital. Sie brachte nicht nur ihre Expertise als Onkologin mit, sondern auch einen Plan: Sie will die Krebsmedizin präziser, individueller und gerechter machen.
Zum weissen Arztkittel trägt sie elegante Schuhe. Özdemir arbeitet im denkmalgeschützten Lory-Haus des Inselspitals, einem Bau der klassischen Moderne, dessen offene Architektur patientenfreundlich wirkt. Sie behandelt Patientinnen und Patienten mit Hautkrebs und Tumoren des Harntrakts. Parallel dazu forscht sie an einer Frage, die als revolutionär gilt, aber einleuchtend scheint: Wie unterscheiden sich Männer und Frauen in der Krebstherapie? «Sie reagieren anders auf Medikamente», sagt sie. «Und das gilt es zu berücksichtigen.» Deshalb will sie wissen, wer ihr in der Sprechstunde gegenübersitzt: Mann oder Frau? Jung oder alt? Herkunft?
Özdemir spricht im breiten Berner Dialekt. Mit zehn kam sie mit ihren Eltern aus der Türkei in die Schweiz, studierte nach der Matura in Bern Medizin, bildete sich in Boston, Houston und Lausanne weiter.
Derzeit plant sie eine klinische Studie, um zu untersuchen, ob Immuntherapien tatsächlich deutlich besser wirken, wenn sie vor 15 Uhr verabreicht werden. «Ohne zusätzliche Medikamente», wie sie betont.
Diese sogenannte Chronotherapie – die tageszeitlich abgestimmte Gabe von Medikamenten – ist nicht neu. Seit über 50 Jahren diskutiert die Medizin darüber. Bei Immuntherapien sei das ausgeprägt, sagt Özdemir: «Die bisherigen Daten zeigen: Je früher am Tag, desto besser geht es den Patienten.»
Besonders deutlich sei der Effekt bei Frauen. Das zeigt eine amerikanische Studie bei Melanomen. Aber, betont Özdemir: «Vielleicht erhalten fittere Personen oft morgens Therapietermine, weniger mobile eher nachmittags – das kann fälschlich einen Zeiteffekt suggerieren. Nur gezielte klinische Studien können klären, ob der Zeitpunkt wirklich entscheidend ist.»
Aus dem «könnte» soll Gewissheit werden.
Kampf ums Geld
Für die Studie sucht sie Geld. Bisher erfolglos. Zweimal hat der Schweizerische Nationalfonds (SNF) ihren Antrag abgelehnt. «Die externen Gutachten waren alle positiv», sagt sie. Die Konkurrenz sei gross; von über 140 Gesuchen habe der SNF nur sechs bewilligen können. Dabei sei ihre Studie leicht umzusetzen: Man müsste lediglich erfassen, wann ein Mensch behandelt wurde und ob er überlebt hat. Die Relevanz für die Schweiz sei hoch, betont sie: «Wir sind eines der Länder mit überdurchschnittlich vielen Fällen von schwarzem Hautkrebs.»
Die Onkologin Berna Özdemir hofft, ihre geplante Studie zur geschlechtsspezifischen Medizin mit Unterstützung des Swiss Cancer Institute finanzieren zu können. Die Institution, früher bekannt als Schweizerische Arbeitsgruppe für Klinische Krebsforschung (SAKK), feiert im September ihr 60-jähriges Bestehen. «Das Swiss Cancer Institute führt seit Jahrzehnten hervorragende klinische Studien durch – und kann im internationalen Vergleich selbst mit deutlich grösseren Ländern mithalten», sagt Özdemir.
Das Institut arbeitet unabhängig vom Staat und widmet sich der klinischen Forschung zu sämtlichen Krebsarten in der Schweiz. Mitglieder sind alle Universitätsspitäler sowie führende Kantons-, Regional- und Privatspitäler. Ziel sei es, so CEO Vincent Gruntz, «Patientinnen und Patienten schneller Zugang zu den besten, wissenschaftlich fundierten Therapien zu ermöglichen – für mehr Lebensqualität und längere Lebenszeit».
Für 2025 sind 20 neue Studien geplant – darunter auch das Projekt von Berna Özdemir, dessen Start für 2025 oder 2026 vorgesehen ist. «Neben der wissenschaftlichen Unterstützung prüfen wir derzeit auch eine direkte finanzielle Beteiligung, sind aber auf weitere Drittmittel angewiesen», sagt Gruntz.
Mehr Informationen: www.swisscancerinstitute.ch
Die Onkologin Berna Özdemir hofft, ihre geplante Studie zur geschlechtsspezifischen Medizin mit Unterstützung des Swiss Cancer Institute finanzieren zu können. Die Institution, früher bekannt als Schweizerische Arbeitsgruppe für Klinische Krebsforschung (SAKK), feiert im September ihr 60-jähriges Bestehen. «Das Swiss Cancer Institute führt seit Jahrzehnten hervorragende klinische Studien durch – und kann im internationalen Vergleich selbst mit deutlich grösseren Ländern mithalten», sagt Özdemir.
Das Institut arbeitet unabhängig vom Staat und widmet sich der klinischen Forschung zu sämtlichen Krebsarten in der Schweiz. Mitglieder sind alle Universitätsspitäler sowie führende Kantons-, Regional- und Privatspitäler. Ziel sei es, so CEO Vincent Gruntz, «Patientinnen und Patienten schneller Zugang zu den besten, wissenschaftlich fundierten Therapien zu ermöglichen – für mehr Lebensqualität und längere Lebenszeit».
Für 2025 sind 20 neue Studien geplant – darunter auch das Projekt von Berna Özdemir, dessen Start für 2025 oder 2026 vorgesehen ist. «Neben der wissenschaftlichen Unterstützung prüfen wir derzeit auch eine direkte finanzielle Beteiligung, sind aber auf weitere Drittmittel angewiesen», sagt Gruntz.
Mehr Informationen: www.swisscancerinstitute.ch
Die Chronotherapie ist Teil eines grösseren Denkansatzes, der Özdemir umtreibt: geschlechterspezifische Medizin. Das sei weder Frauenförderung noch Identitätspolitik, betont sie, sondern sie betrachtet biologische Unterschiede. «Man kann nicht einfach sagen, eine Frau ist ein Mann mit Brüsten», sagt sie. «Die hormonelle Umgebung ist komplett anders, das Immunsystem ist anders aktiv. Und das beeinflusst die Wirkung von Medikamenten.»
Falsche Dosierung
Frauen leiden bei Krebstherapien deutlich mehr unter Nebenwirkungen. Diese seien ernsthaft, teilweise lebensbedrohlich, sogar tödlich. Frauen hätten häufiger Infekte, mehr Aphten im Mund, mehr Haarausfall, litten öfter an Durchfall und stärkeren Nervenschäden. Zudem sinke ihre Zahl weisser Blutkörperchen und Blutplättchen stärker; die Immunabwehr leidet.
Erklären lassen sich die Nebenwirkungen mit falscher Dosierung. Die meisten Medikamente werden nach Körperoberfläche – berechnet aus Gewicht und Grösse – oder Gewicht allein dosiert. Das wirke objektiv, sei aber in Wahrheit eine «Scheingenauigkeit», wie sie sagt. «Ich kann eine Dosis auf 10 Milligramm genau berechnen und übersehe dabei, dass eine Frau weniger Muskeln hat als ein Mann.»
Muskeln helfen, Medikamente im Körper abzubauen. Eine Frau mit denselben äusseren Merkmalen wie ein Mann hat biologisch bedingt mehr Fett. Deshalb bleiben Medikamente länger in einem weiblichen Körper, die Nebenwirkungen nehmen zu.
Warum wurde diese an sich triviale Erkenntnis so lange ignoriert? Özdemir spricht von einem «tief verwurzelten Androzentrismus in der Medizin», einem Denken, das den Mann zur medizinischen Norm erklärt. In den Lehrbüchern ihres Studiums waren fast ausschliesslich männliche Körper abgebildet.
Mit Folgen: Blasenkrebs etwa wird bei Frauen systematisch zu spät diagnostiziert. Bei Blut im Urin denke man als Erstes an eine Infektion und verabreiche Antibiotika, erklärt Özdemir. «So vergehen im Schnitt zwei bis drei Monate, bis die richtige Diagnose gestellt wird.» Der Krebs wächst weiter. Bei Männern mit denselben Symptomen wird hingegen früher an Blasenkrebs gedacht.
Die Forschung folgt ähnlichen Mustern: Die meisten Tierversuche werden mit Männchen durchgeführt. Weibchen hätte man ausgeschlossen, aus Angst, ihr Zyklus könne Ergebnisse verfälschen. «Dabei ignoriert man, dass die Hälfte der Menschheit einen Zyklus hat», sagt die Ärztin.
Ein weiteres Hindernis sieht Özdemir in der ungenügenden Finanzierung von Krebsforschung durch staatliche Institutionen. Aktuell werden über 80 Prozent der klinischen Forschung in der Onkologie von der Pharmaindustrie finanziert. «Pharmafirmen haben wenig Anreiz, Medikamente für Männer und Frauen getrennt zu testen.» Sie wollen ein Produkt, universell zugelassen, universell einsetzbar.
Im internationalen Vergleich hinkt die Schweiz hinterher. Italien schreibt gesetzlich vor, dass im Gesundheitswesen und bei der Forschung Geschlechterunterschiede berücksichtigt werden. In den Niederlanden und in Skandinavien wird intensiv geschlechterspezifisch geforscht.
Zusätzlich erschwert der Föderalismus die schweizerische Forschung. Wer landesweite Daten will, muss jeden Kanton einzeln anfragen, da ein nationales Krebsregister fehlt. Öffentliche Gelder sind knapp. «Warum nehmen wir nicht ein paar Rappen von jedem Krankenkassenbeitrag und investieren sie in unabhängige Forschung?», fragt Özdemir. «Davon hätten alle etwas.» Geschlechterspezifische Medizin könne Tausenden Krebspatientinnen und -patienten in der Schweiz das Leben retten. «Oder es zumindest deutlich verbessern.»
Hoffnung trotz Hindernissen
Berna Özdemir wirkt zugewandt, humorvoll und entschlossen. Eine neue Generation von Ärztinnen und Ärzten verstehe inzwischen gut, dass Frauen nicht Männer mit Brüsten seien. «Gendermedizin ist keine Modeerscheinung mehr», gibt sie sich optimistisch. «Sie ist die Grundlage der Präzisionsmedizin.»
Weiterhin betreut sie Patientinnen und Patienten, pro Woche seien es viele. «Manchmal sind das junge Menschen mit kleinen Kindern, manchmal ältere mit komplexen Erkrankungen. Es ist eine belastende Arbeit, ja. Aber sie macht Freude, etwa, wenn man jemandem sagen kann: Sie sind geheilt.»
Nicht immer gelingt das. Zur Onkologie gehört der Tod, mehr als in anderen Disziplinen der Medizin. Wie geht sie damit um? «Es gibt schwierige Phasen, klar. Wenn ich etwa an Weihnachten schlechte Nachrichten überbringen muss. Aber ich weiss immer: Ich habe alles gemacht, was möglich ist. Und das verleiht meiner Arbeit Sinn.»
Zusätzlich schöpft sie Kraft aus den Fortschritten der Krebsmedizin. «Vor 15 Jahren war ein metastasiertes Melanom ein Todesurteil. Heute können wir die Hälfte der Patientinnen und Patienten heilen.»
Diese Entwicklung dürfte weitergehen. Ganz verschwinden aber wird Krebs wohl nie. Es gibt über 200 Arten, viele davon selten oder schwer behandelbar. «Aber wir bekommen die grossen Volkskrankheiten zunehmend in den Griff.» Der Schlüssel dazu sei die Präzisionsmedizin: Therapien, individuell zugeschnitten auf Genetik, Alter, Lebensstil und auf das Geschlecht.
Berna Özdemir nennt die geschlechterspezifische Medizin «die Grundlage jeder differenzierten Behandlung». Nicht nur in der Onkologie, auch in der Kardiologie, der Neurologie, sogar bei psychischen Erkrankungen. «Wenn wir das berücksichtigen, profitieren alle, unabhängig von ihrem Geschlecht», sagt sie.