Unerklärbarer Hype um Kartenspiel Tichu
Achtung, Suchtfaktor!

Seit 30 Jahren zieht dieses Kartenspiel vor allem Junge an. Weshalb, weiss niemand so genau. SonntagsBlick hat recherchiert – an der Schweizer Tichu-Meisterschaft.
Publiziert: 19.11.2023 um 17:04 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2023 um 13:05 Uhr
An die Tichu Team Schweizermeisterschaft in Lachen SZ haben sich 128 Spielerinnen und Spieler angemeldet.
Foto: Linda Käsbohrer
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Sara BelgeriRedaktorin

Sechs Stunden, mehr oder weniger: So lange muss hier durchhalten, wer den Pokal gewinnen will. 

Noch ist die Stimmung gut. Ein aufgeregtes Wirrwarr von Stimmen – in Berner, Basler, Zürcher Dialekt. Eine fragt: «Darf ich eigentlich zwei darauffolgende Paare zusammen spielen?» 

Willkommen an der «22. Tichu Team Schweizermeisterschaft» in Lachen SZ, die im Rahmen des Obersee-Spielfests stattfindet. 64 Zweierteams sind gemeldet – die maximale Teilnehmerzahl. 

Viele sind nicht zum ersten Mal hier: «Hallo, wie gehts dir?», Händeschütteln, «du auch wieder da!»

Acht lange Tische stehen säuberlich aufgereiht im grossen Saal des Hotels Bären. Die Tichu-Boxen liegen bereit. Besonders Verbissene finden sich schon vor Turnierbeginn an den Tischen ein, noch einmal üben, bevor es ernst gilt. Einige sind schliesslich von weit her angereist: Willisau LU, Laupen BE – sogar aus Hamburg (D).

Vor allem bei Jungen ist das Kartenspiel beliebt

«Tichu ist nicht zu erklären», so steht es im Regelbuch. Egal: Das halbe Land ist seit 30 Jahren im Tichu-Fieber. Schuld daran ist Urs Hostettler (74), der das ostasiatische Kartenspiel mit Jass- und Pokerelementen adaptiert und in die Schweiz gebracht hat.

Der Berner hat weisses, schulterlanges Haar, Vollbart und eindeutig jugendlichen Schalk in den Augen. Das muss man als einer der bekanntesten Spielerfinder der Schweiz wohl auch haben. Doch Hostettler – studierter Mathematiker («inaktiv»), Liedermacher (in den 70ern war er mit seiner damaligen Band am ersten Gurtenfestival) und Autor (eines fast 800-seitigen Buchs über den Aufstand der Emmentaler 1653) – entwickelt nicht nur Spiele: In den 80ern hat er den Genossenschaftsverlag Fata Morgana und den Spieleladen Drachenäscht in Bern mitbegründet.

Aber wie ging das jetzt genau mit dem Tichu? «Das steht im Regelbüchlein», sagt Hostettler. Es stimme alles, was auf diesem 26 Seiten kurzen Reisebericht plus Regelbuch stehe. «Wirklich!» Er erzählt trotzdem: 1988 reiste er zusammen mit sechs Freunden nach China. Immer wieder sahen sie, wie Männer in Parks ein ominöses Kartenspiel spielten.

Das Problem: Der Reiseführer, Herr Chuang, wollte mit den Regeln nicht herausrücken. Irgendwann liess er sich dann aber doch erweichen. Die Freunde waren begeistert und feilten schon auf der Heimfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn an neuen Regeln. Sie führten vier Spezialkarten ein, Hostettler schrieb das Regelbüchlein («darauf bin ich stolz»), und Grafiker Res Brandenberger gestaltete die Karten mit den chinesischen Motiven. 1991 kam Tichu erstmals im Fata Morgana Verlag heraus. 

Tichu entfesselte einen (beinahe) unerklärbaren Hype. An Universitäten und Schulen wird wie verrückt gespielt. Vor allem bei Jungen ist das Kartenspiel beliebt, obwohl man eine Weile braucht, um es zu lernen – da soll noch einer sagen, Gen Z hätte eine kurze Aufmerksamkeitsspanne!

Auch die St. Galler Grünen-Nationalrätin Franziska Ryser (32) und Velorennfahrerin Marlen Reusser (32) outeten sich als Fans. Heute gibt es in der ganzen Schweiz Tichu-Klubs und -Turniere. Und eben Meisterschaften, die seit 1993 ausgerichtet werden.

So ganz genau kann sich auch Hostettler den Erfolg des Kartenspiels nicht erklären. Pro Jahr verkauft das Drachenäscht zwischen 5000 und 7000 Tichu-Boxen, in Deutschland sogar 15'000. Und das, obwohl man nie speziell dafür geworben habe. «Reine Mund-zu-Mund-Propaganda», so Hostettler. Die aber hat es bis über die Landesgrenzen hinaus geschafft: Auch in Deutschland finden Meisterschaften statt, es gibt koreanische, französische und sogar chinesische Tichu-Ausgaben. 

Auch in Griechenland ist die Fangemeinde riesig. So gross, dass in einem SRF-«Eco»-Beitrag von 2015 über die EU-Finanzkrise eine griechische Familie beim Tichu-Spielen gezeigt wurde.

«Wenn man es einmal gespielt hat, kann man nicht mehr aufhören.»

Aber einer hat genug vom Kultspiel: Urs Hostettler. «Nach 30 Jahren langweilt es mich ein wenig.» An die Tichu-Team-Meisterschaften geht er deshalb nur noch selten. 2016 gab er Tichu Booster, eine Tichu-Erweiterung, heraus. «Eine wesentliche Verbesserung», wie Hostettler sagt. Wenn er mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen Tichu spielt, dann immer nur mit Booster-Karten. Nur: Viele eingefleischte Tichu-Fans wollen nicht mit den Zusatzkarten spielen. 

Auch in Lachen will man nichts vom Booster wissen. Sie hätten es zu Hause, sagen Till (30) und Ilan (32) aus Basel, würden es aber nie spielen. Sie sind zum ersten Mal an der Schweizer Tichu-Meisterschaft. Das erste Mal dabei sind auch Joshua, Jeannot, Fabio und Mark, alle Anfang 20. Sie hätten im Zivildienst stundenlang zusammen Tichu gespielt. 

An der Meisterschaft trifft man aber nicht nur Neulinge, sondern auch Ur-Tichuaner. So zum Beispiel Lukas Merlach (56). Er war mit Urs Hostettler auf der Chinareise dabei, half bei der Entwicklung mit, und arbeitet für den Fata Morgana Verlag. Merlach brennt noch immer für Tichu und ist bei fast jeder Meisterschaft dabei. Einmal in der Woche spielt er das Kartenspiel sogar über Mittag. Tichu habe eben einen gewissen Suchtfaktor, sagt er. Wenn man es einmal gespielt habe, spiele man es halt «gäng wider». 

Auch Noël (19) und sein Götti Urs (55) sind angefressen. «Tichu wird nie langweilig», sagt Letzterer, «wenn man es einmal gespielt hat, kann man nicht mehr aufhören.» Sein Göttibueb stimmt ihm zu. Und: «Bei Tichu kannst du aufholen, auch wenn du in einer Runde mal schlecht warst.»

Um fünf nach zwei gehts los. Jetzt gilts ernst. Stühle scharren, Karten werden gemischt, Hände geschüttelt. Auf eine faire Partie. Noch sechs Stunden. Dann stehen die neuen Schweizer Tichu-Meisterinnen und -Meister fest. 

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