Bergretterinnen packen aus
«Und dann glitt das Baby in meine Arme»

Überdurchschnittlich viele Menschen gerieten diesen Sommer in den Bergen in Not; dies führte zu sehr vielen Rettungseinsätzen. Zwei Retterinnen berichten von Lawinen und Nabelschnur. Ein Alltag voller Extremsituationen.
Publiziert: 13:55 Uhr
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Aktualisiert: vor 45 Minuten
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Mehr Einsätze in den Bergen: Seit Anfang Jahr ist die Air Zermatt 200-mal mehr abgehoben als in der Vorjahresperiode …
Foto: keystone-sda.ch

Darum gehts

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Pascal ScheiberReporter Gesellschaft

Verletzt, verirrt, verschüttet. Wanderer, Bergsteigerinnen oder Kletterer. In den Sommermonaten herrscht in den Bergregionen am meisten Betrieb: Hochsaison für den Tourismus – und das Rettungswesen. Knapp die Hälfte aller 3500 Bergnotfälle im Jahr 2024 geschahen im Juni, Juli oder August. 111 Menschen starben letztes Jahr im Gebirge.

Und heuer? Überdurchschnittlich viele, komplexe und herausfordernde Rettungseinsätze erlebte das Rettungswesen diesen Sommer. Das schöne Wetter in den warmen Monaten sorgte in den Bergen für mehr Arbeit. Seit Anfang Jahr leistete die Alpine Rettung Schweiz rund 100 Einsätze mehr als in der Vorjahresperiode. Bei der Air Zermatt im Wallis waren es gar 200 mehr. Und die Rega rettete bis Ende August überdurchschnittlich viele Wandernde oder Hochtourengänger – rund 10 Prozent mehr als in den Vorjahren. Sie schreibt von stabil steigenden Einsatzzahlen aufgrund von schönem Wetter und einer wachsenden Bevölkerung.

Wer steckt hinter diesen Zahlen? Zwei Retterinnen aus dem Wallis und Graubünden berichten. Eine aus der Luftrettung am Matterhorn. Und eine Bergretterin aus dem Engadin.

Jaël Messerli (29), Rettungssanitäterin im Helikopter der Air Zermatt

Foto: Christian Pfammatter

«Eine Heldin bin ich nicht. Ich rette zwar täglich verletzte oder kranke Menschen, aber das ist nur mein Job als Rettungssanitäterin auf dem Helikopter. Vor einer halben Stunde kam ich in eine solche Situation. Um 11.40 Uhr schrillte der Alarm bei uns auf der Helikopterbasis in Zermatt. Unser Rettungshelikopter steht abflugbereit. Lawinenniedergang am Mönchsjoch, hiess es. Wir rechneten damit, dass Personen involviert sein könnten, und rückten deshalb innerhalb von dreieinhalb Minuten aus. Bei einer Zwischenlandung im Nachbardorf Randa stiegen Bergrettungsspezialisten zu.

Wir gehen immer vom Schlimmsten aus. Auch im Sommer rüsten wir den Helikopter mit allem Material aus. Üblich sind Lawinen aktuell nicht. Als Sanitäterin sitze ich im Cockpit links neben dem Piloten und unterstütze ihn als Co-Pilotin. Ich informiere mich über den Flug zum Einsatzort und darüber, ob es mögliche Gefahren unterwegs oder vor Ort gibt. Hängen irgendwo Kabel in der Luft oder Hochspannungsleitungen? Parallel spiele ich mit der Notärztin – sie sitzt hinten im Heli – sämtliche medizinischen Szenarien durch.

Im letzten Winter flogen wir zu einer hochschwangeren Frau mit akuter Wehentätigkeit, weil die Strasse ins Goms abgeriegelt war. Noch bevor wir die Frau in den Helikopter gehievt hatten, schrie sie, dass das Baby komme. Einen Moment später glitt das Baby in meine Arme und weinte. Wir lachten alle zusammen. Dieser Moment berührte uns alle. Beim Rettungsdienst in Chur hatte ich gelernt, was in solchen Situationen zu tun ist, und durchtrennte die Nabelschnur. Als wir die beiden nach Visp ins Spital flogen, trank das Baby bereits von der Brust. Diesen Einsatz werde ich bestimmt nie vergessen.

Er zeigte mir, wie nah mein Arbeitsalltag hier im Wallis an Leben und Tod grenzt. Da öffnete sich das Leben, aber oft ist das Gegenteil die Realität. Heuer hatten wir 200 Einsätze mehr als in den Vorjahren. Viele waren überdurchschnittlich komplex und fanden in der Nacht statt. So am Lagginhorn oberhalb von Saas-Fee, Ende Juli. Um 18 Uhr, was sehr spät ist, erreichte uns der Alarm. Vier Bergsteiger kamen nicht mehr weiter. Mit dem Helikopter flogen wir auf rund 3200 Meter über Meer. Weiter kamen wir nicht. Schnee, Sturm und Nebel verhinderten einen Weiterflug. Die beiden ersten Bergrettungsspezialisten stiegen aus und starteten die Evakuierung zu Fuss. Unser Flug war so unruhig gewesen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Der Wind war immens. Die Grenze des Möglichen zeigte sich hier.

Mein Pilot, der Notarzt und ich warteten bei der Weissmieshütte auf ein Signal der Retter am Berg. In den frühen Morgenstunden, nach einer der aufwendigsten Evakuationen, gelang es ihnen, die Alpinisten zum Helikopter zu bringen. Wir flogen direkt zum Spital. Was ich damals noch nicht wusste: Im Verlauf des Sommers würde es zu weiteren solch komplizierten, gefährlichen und langen Evakuationen und Todesfällen am selben Berg kommen. Wetter, Höhe, Gelände, Technik und Medizin – all diese Faktoren spielen eine relevante Rolle in meinem Alltag als Rettungssanitäterin im Helikopter. Faszinierend, nicht?

Jael Messerli zieht an der Winde zwei evakuierte Bergsteiger beim Dirruhorn im Juli 2025 zum Helikopter.
Foto: zVg

Als Kind auf dem Bauernhof meiner Eltern träumte ich davon, irgendwann im Flug mit offener Tür über den Alpen die Winde zu bedienen. Meine Arbeit ist fordernd – physisch und psychisch, aber am Ende auch ‹nur› mein Job. Ich bin mir bewusst, dass ein Fehler bei uns oft verheerende Folgen hat. Ein 08/15-Bürojob in der Stadt hat das nicht. Vergleichen will ich aber nicht. Zurück zum Lawineneinsatz am Mönchsjoch: Kurz nach dem Start in Randa funkte uns die Zentrale und teilte mit, dass nur eine Person verletzt sei und bereits behandelt würde. Weitere Personen seien nicht involviert. Wir konnten den Einsatz abbrechen. Morgen Montag ist meine Schicht zu Ende. Bis dahin lebe ich mit meiner Crew das klassische WG-Leben auf einer Heli-Basis. Wenn ich zu Hause in Brig bin, gehe ich direkt joggen oder klettern – als Ausgleich zum Basis-Alltag.»

Alice Vollenweider (35), Tierärztin, Bergretterin und Präsidentin des Vereins Alpine Rettung Graubünden aus Sent GR

Foto: zVg

«Was man aus dem Fernsehen kennt, ist nicht meine Realität. Spektakuläre Bilder von Bergrettungen mit stahlblauem Himmel und Sonnenschein – Fehlanzeige. Als Bergretterin springe ich dann ein, wenn Wetter und Weg schlecht sind. Dann, wenn es wirklich nicht mehr lustig ist am Berg. Wenn kein Helikopter, keine Ambulanz und keine Seilbahn ins Gelände kommt. Dann, wenn auch meine Kleider irgendwann durchnässt sind, es mitten in der Nacht stockfinster ist und die Orientierung zur Herausforderung wird. Was mich dann erleichtert, ist eine Antwort aus dem Dunkeln. Ein ‹Hallo!›, ‹Hilfe!› oder ‹Hier bin ich!›. Leben und Tod liegen nah beieinander. Aber wenn wir nicht retten würden, wäre für manche die Überlebenschance bei null.

Hier im Kanton haben sich 1200 Personen dem Verein Alpine Rettung Graubünden angeschlossen. Entweder als Bergretterinnen oder Bergretter oder als medizinische Ersthelfer. Wir versuchen, damit ein möglichst breit abgestütztes Hilfenetz über die sehr abgelegenen Regionen zu spannen. Das System verankern wir lokal. Denn: Wir retten, wo wir leben. Mein Einsatzgebiet im Unterengadin und Val Müstair kenne ich fast wie meine eigene Hosentasche. Wo Gefahrenpunkte und welche Risiken herrschen, kann ich dadurch besser abschätzen.

Im letzten Jahr leisteten wir 484 Einsätze hier im Kanton. Das kann eine Suchaktion nach einer vermissten Person bei schlechtem Wetter im unwegsamen Gelände mit der Polizei sein. Eine Evakuierung von blockierten Bergsteigenden in der Felswand oder Touristen in einer defekten Gondel. Wann genau ich wie im Einsatz stand, darf ich aus Datenschutzgründen nicht berichten. Ich kann aber sagen, wie es abläuft: Auf einer App bekomme ich den Alarm für einen Einsatz mit allen Informationen zu Standort, Umfang und zum nötigen Material. Wenn ich nicht als Tierärztin einen Notfall behandeln muss, fahre ich los.

Alice Vollenweider während einer Seilbahnevakuationsübung auf der Motta Naluns im Skigebiet Scuol im Herbst 2024.
Foto: zVg

Vor Ort kann es unterschiedlich ablaufen. Eine Lawine mit verschütteten Personen erfordert zum Beispiel ein Grossaufgebot an Rettungskräften. Zuerst versuchen wir, das Gelände des Lawinenkegels nach optischen Hinweisen abzusuchen. Das Lawinenverschüttetensuchgerät trägt im besten Fall jede Person während einer Skitour auf sich. Also suchen wir danach, lassen die Suchhunde schnüffeln und stechen den Lawinenkegel mit Metallsonden ab. Nur die Hälfte aller komplett verschütteten Personen überleben eine Lawine. Ich mag mich gut an meinen ersten Einsatz auf einer Lawine erinnern. Beim Alarm stieg mein Puls rasant, und ich war sehr nervös. Ich wollte alles richtig machen. Wir standen zeitlich unter Druck, weil wir nicht wussten, wie lange die verschüttete Person überlebt. Geht es um Leben und Tod, habe ich einen sehr hohen Anspruch an mich als Retterin.

Obwohl ich im Milizsystem nur nebenberuflich Menschen rette, muss ich regelmässig Kurse absolvieren. Dort lernen wir auch den Umgang mit belastenden Situationen. Es kommt vor, dass wir die betroffenen Personen persönlich kennen oder kannten. Ob ich die Person kenne oder nicht, ob es um Menschen geht oder Tiere: Das Helfen fasziniert und begeistert mich – trotz Höhen und Tiefen behalte ich meine gelbe Jacke.»

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