Neue Therapieform
Angststörung? Diese Brille soll helfen

Virtual Reality gegen Angststörungen: Eine Patientin probiert in der Basler Tagesklinik Sonnenhalde eine neue Therapieform aus. Ein Balanceakt zwischen Illusion und Realität – mit erstaunlicher Wirkung.
Publiziert: 11:11 Uhr
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VR-Therapie kommt bei Angststörungen zum Einsatz.
Foto: Getty Images

Darum gehts

  • VR-Therapie hilft Patienten, Angststörungen zu überwinden und zu kontrollieren
  • Virtuelle Simulationen ermöglichen kontrollierte Konfrontation mit Angstsituationen
  • Klinik Sonnenhalde nutzt VR seit mehreren Jahren für therapeutische Zwecke
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Lea MartiRedaktorin

Der Motor dröhnt, der Gurt liegt straff über ihrem Schoss. Aus dem kleinen Fenster sieht sie die Wolken vorbeiziehen, während das Flugzeug langsam an Höhe gewinnt. Jede Bewegung, jedes Geräusch wirkt überdeutlich. Schweissperlen bilden sich an ihren Händen, ihr Herz rast, ihr Körper spannt sich an. Alles in Astrid* schreit danach, aufzustehen, zu fliehen, irgendwohin, nur nicht hierbleiben. 

Doch die 39-Jährige sitzt nicht wirklich in einem Flugzeug. Sie befindet sich in einem ruhigen Therapieraum der Klinik Sonnenhalde in Basel, zwischen Computer, weissen Wänden und ihrer Therapeutin. Auf ihrem Kopf: eine VR-Brille. «Ich spüre alles, und gleichzeitig weiss ich: Ich bin hier sicher», sagt Astrid leise. «Es ist merkwürdig, beängstigend und faszinierend zugleich.» Für sie ist das kein Spiel, sondern Therapie. Virtuelle Realität soll ihr helfen, die lähmende Angst vor dem Fliegen zu verstehen und Schritt für Schritt zu kontrollieren.

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Angst, die den Alltag bestimmt

Flugangst ist mehr als ein flüchtiges Unwohlsein. Sie beeinflusst kleine und grosse Entscheidungen bis in den Alltag: von der Zugfahrt zum Flughafen bis zur Ferienplanung. Wegen ihrer Angst kann Astrid seit zehn Jahren nicht mehr mit ihrer Familie in die Ferien fliegen. «Manchmal ist es einfacher, die Angst zu ignorieren, als sich ihr zu stellen», erzählt sie. 

Dr. Johannes Beck, leitender Psychologe der Klinik Sonnenhalde, erklärt: «VR ist ein Werkzeug, um angstbesetzte Situationen erlebbar zu machen – sicher und dosierbar. Es geht nicht darum, die Angst wegzumachen, sondern zu zeigen: Ich kann bleiben, auch wenn es unangenehm ist.» Die Klinik Sonnenhalde nutzt VR seit mehreren Jahren, speziell für therapeutische Zwecke programmiert. Jede Simulation wird individuell gestaltet: Szenen, Geräusche, Licht und Abläufe sind so abgestimmt, dass die Konfrontation kontrolliert, aber realistisch bleibt. Während der gesamten Sitzung wird die Patientin begleitet. Vor jeder Simulation werden Erwartungen und Intensität besprochen, danach folgt ein ausführliches Nachgespräch, damit sich die erlebten Strategien in den Alltag übertragen lassen.

Zwischen Illusion und Kontrolle

Seit einigen Wochen nimmt Astrid an der Therapie teil. Die VR-Brille entführt sie in die Welt des Fliegens: vom Boarding über den Start bis zu Turbulenzen und dem Blick auf die Wolken. Geräusche, Licht und ein leichter Luftzug vom Ventilator auf ihr Gesicht lassen sie vergessen, dass sie in einem Therapieraum sitzt.

Doch keine Sitzung gleicht der anderen. Die Szenarien werden individuell programmiert: mal voller Passagiere und Trubel, mal ruhig und leer. Lautstärke, Licht, Dauer oder Intensität lassen sich so anpassen, dass die Konfrontation fordernd, aber nicht überfordernd ist. «Es ist, als würde ich wirklich fliegen», sagt Astrid. «Ich weiss, dass es nur Simulation ist, aber mein Körper reagiert, als wäre alles echt.» Wenn sie die Brille abnimmt, ist die Illusion vorbei. Doch die Erfahrung hinterlässt Spuren: das Gefühl, einen Moment lang über die Angst hinausgewachsen zu sein. 

Lernen fürs reale Leben

Im Verlauf der Therapie bemerkt Astrid kleine Veränderungen: Die Angst ist noch da, doch sie verliert an Macht. «Ich kann bleiben, auch wenn es unangenehm ist», sagt sie. Dr. Beck beobachtet diesen Prozess oft: «Wer in der Simulation geübt hat, kann in der Realität auf diese Erfahrung zurückgreifen.»

Virtuelle Realität ersetzt das wirkliche Erleben nicht. Doch sie schafft einen geschützten Raum, in dem sich Menschen ihren Ängsten stellen können – begleitet, reflektiert und Schritt für Schritt. Ob es um Flugangst, Höhenangst, Spinnenphobie oder soziale Ängste geht: Die Technik hilft, Kontrolle zurückzugewinnen. Vielleicht wird der nächste herausfordernde Moment nicht mehr lähmend, sondern nur noch eine Chance, die eigene Angst zu meistern.

Die Technik für die neuartige Behandlungsmethode stammt ursprünglich aus der Spielewelt. Dass virtuelle Realität auch im therapeutischen Bereich eingesetzt wird, ist kein Zufall. In ihrem Buch «The Game is on» zeigt die österreichische Informatikerin Johanna Pirker auf, wie Gaming kulturelle, soziale und technologische Entwicklungen vorantreibt. Innovationen aus Spielen – VR, KI, interaktive Simulationen – eröffnen zugleich neue Möglichkeiten in Therapie und Bildung. Patientinnen wie Astrid profitieren direkt von Entwicklungen, die zunächst für Games erforscht wurden.

*Name geändert

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