Unser Strassenbild verändert sich. Langsam, aber stetig. Und zwar nicht zum Besseren. Ganz offensichtlich scheinen traditionelle Schönheitsideale bei Automobilen kaum mehr eine Rolle zu spielen. Neue Modelle meistern immer seltener die ewige Herausforderung des Autodesigns, nämlich den schmalen Grat zwischen glatt polierter Langeweile und übermütiger Extravaganz so auszubalancieren, dass am Ende wohlgefällige Hingucker entstehen.
Zugegeben, Designkritik ist ungefähr so alt wie das Thema selbst. Und es gibt auch das schöne Sprichwort, dass Geschmäcker verschieden sind. Design ist also eine diffuse Zone – und damit ein weit schwierigeres Terrain als die technische Entwicklung, bei der klare Messwerte über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Deshalb gehört die Formgebung zu den schwierigsten Entscheidungen eines Autoherstellers. Sie kann einer Marke ungeheuren Auftrieb verleihen – siehe Range Rover Evoque – oder ordentlich in die Hosen gehen wie beim bis in alle Ewigkeit hässlichen 7er-BMW (E65) von Chris Bangle.
Abbild des jeweiligen Zeitgeistes
Grundsätzlich muss Autodesign immer auch als Abbild des jeweiligen Zeitgeistes gesehen werden. Der Beginn des Raketenzeitalters und der Amerikanische Exzeptionalismus fanden ihren perfekten Ausdruck in der völlig sinnbefreiten Heckflosse. Als in den 1980ern schnurgerade Schulterpolster aufkamen, wurde das Lineal zum wichtigsten Werkzeug der Designer. Und heute?
Wir leben im Zeitalter der Meinungspolarisierung, und auch das scheint das Autodesign zu beeinflussen. Auf der einen Seite wären da die Volumenhersteller, die aus nachvollziehbaren Gründen lieber auf dem sicheren Boden der gepflegten Langeweile bleiben – mit dem Ergebnis, dass für alle Nichtinteressierten ein VW kaum von einem Hyundai zu unterscheiden ist. Die mikroskopischen Nuancen, die einen BYD Seal von einem Xpeng G6 trennen, fallen bereits in die Kategorie des Bilderrätsels «Finden Sie die fünf Unterschiede».
Böswillig kann man auch behaupten, dass das heutige Strassenbild von weichgespülten Kisten mit immer gleichen SUV-Proportionen beherrscht wird. Im Mainstream müssen heutzutage ein gewagter Strich da, eine irritierende Sicke dort und teils bizarr wirkende Lichtelemente zur Differenzierung reichen. Liegt es daran, dass sich durch die Elektrotransformation auch bei den technischen Details immer weniger Unterscheidungsmerkmale ergeben? Was gleich zur nächsten Frage führt: Verlangt die junge Käufergeneration überhaupt noch nach optischer und technischer Differenzierung? Oder gehts nur noch um Preis und/oder Image? Die Imagefrage wäre ein heikler Punkt, weil es den Designern immer weniger gelingt, den jeweiligen Markenkern abzubilden. Mercedes gleich Statusbewusstsein. BMW gleich Sportlichkeit. VW gleich Beständigkeit. Rückblickend war das Golf-Design ein über fünf Jahrzehnte dauernder Verlauf von bürgerlicher Kontinuität.
Marken mit Profilierungsbedarf
Auf der anderen Seite sehen wir heute Marken, die offensichtlich Profilierungsbedarf verspüren. Ganz vorne dabei sind hier Jaguar und BMW. Bei den Briten zeigt ihr radikaler Move eine gewisse Logik. Die Marke hat kaum mehr etwas zu verlieren, wurde sie doch im Premiumgefecht der letzten Jahrzehnte von den Deutschen vernichtend geschlagen. Das anfängliche Beharren auf Tradition brachte nichts, der spätere Wechsel beim XJ und beim XF zur progressiveren Lutschbonbonlinie auch nicht. Also setzt man jetzt auf einen radikalen Neuanfang mit selbstverständlich elektrisch betriebenem Multikulti-Barbie-Chic. Jaguars Chef-Kreativer Gerry McGovern will sich auch nicht mehr mit anderen Herstellern vergleichen, sondern peilt eher den Kultstatus von Luxusmarken wie Hermès, Gucci oder Tom Ford an. Gefühlt ist es ein Hochrisikospiel mit Jaguars letzter Chance.
Fast noch spannender ist jedoch die Designrichtung, die BMW eingeschlagen hat – weil es hier um einen durchaus erfolgreichen Hersteller geht. Hauptmerkmal: Die einst so zarte BMW-Niere hat sich zu einem gierigen Schlund entwickelt, der sich auf eher unangenehme Weise im Rückspiegel breitmacht. Audi und Mercedes ziehen in der Disziplin ebenfalls mit. Bei BMW kommt allerdings dazu, dass aus der ursprünglichen Prämisse «elegante Sportlichkeit» eine mit unnötigem Linienklimbim überfrachtete Pseudoaggressivität wurde – so jedenfalls die mehrheitliche Meinung in den Fan-Foren. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt der BMW XM dar, der, vorzugsweise in Schwarz, die Brutalität eines südländischen Hinterhofschlägers vermittelt. Die Verkaufszahlen des XM sind mehr als nur enttäuschend, BMW hat in diesem Fall den Bogen offenbar überspannt.
Entscheidend ist der Geschmack in China und Amerika
Tatsache ist aber auch, dass sich die Hersteller speziell im oberen Premiumsegment längst nicht mehr am europäischen Geschmack orientieren, sondern an den deutlich grösseren Märkten USA und China, wo ein heftigerer Auftritt durchaus erwartet wird. In den leidenschaftlich geführten Forendiskussionen gibts dazu eine interessante Theorie: Die junge Designergeneration ist mit «Transformer»-Filmen und dem Marvel-Superhelden-Universum aufgewachsen und hat offenbar entsprechende Ästhetikvorstellungen ins Berufsleben mitgenommen. Bestes Beispiel: Teslas Cybertruck. Das Teil wirkt wie eine unnahbare Maske. Kein Gesicht, nur schmale Schlitze mit böser Miene. Kugelsicher. Ein Ironman auf vier Rädern. Wir lernen: In dieser Liga sind offenbar Schönheit und Harmonie der Linien keine essenziellen Stilmittel mehr; sie wurden abgelöst von der Maximierung des Ausdrucks von Power, Speed und Aggressivität.
Mal sehen, wie lange dieser Trend anhält. Denn bisher hat noch jede Modeerscheinung irgendwann eine exakte Gegenbewegung ausgelöst. Schön wäre es beispielsweise, wenn Autos wieder freundliche Gesichter bekämen. Sogar die angeblich letzte Passat-Generation, per Modell-Definition das Familienidyll schlechthin, blickt heute irgendwie mürrisch in die Welt. Dabei könnte mehr freundliches Lächeln im Strassenbild wirklich nicht schaden.