Darum gehts
Wenn Argentinien diesen Sonntag zur Wahl geht, steht mehr auf dem Spiel als nur die Hälfte der Abgeordnetenmandate und ein Drittel der Senatssitze. «Eigentlich wäre es eine Routinewahl», sagt Yanina Welp (51), Politikwissenschaftlerin am Graduate Institute in Genf und gebürtige Argentinierin, über die Kongresswahlen. «Aber Milei selbst hat sie zu einer Schicksalswahl gemacht.»
Denn: Der libertäre Präsident und selbsterklärte Anarchokapitalist, Javier Milei (55), der gerne mit einer Motorsäge auftritt, braucht dringend ein gutes Ergebnis. Seine Partei La Libertad Avanza verfügt bislang über keine Mehrheit im Parlament. «Nun hofft er, seine Machtbasis zu erweitern oder wenigstens genug Sitze zu gewinnen, um seine Dekrete vor der Opposition zu schützen», sagt Welp.
Hilfe aus Washington
Unterstützung erhält Milei aus den USA. Präsident Donald Trump (79) hat angekündigt, künftige Finanzhilfen vom Wahlausgang abhängig zu machen: Nur bei einem Sieg Mileis wolle Washington das Land weiter unterstützen. Für Welp ist das «eine riskante Einmischung», die in Argentinien zwiespältig aufgenommen werde. Argentinierinnen und Argentinier seien historisch eher antiamerikanisch eingestellt. «Jetzt fragen sich viele, ob die USA nicht zu viel Einfluss gewinnen.» Hinzu kommt, dass die USA die argentinische Wirtschaft mit Käufen der Landeswährung Peso stützen.
Wirtschaftlich hat Milei durchaus Erfolge vorzuweisen: Die Inflation sank von über 200 auf rund 40 Prozent. Doch der Preis dafür ist hoch. Sozialleistungen wurden drastisch gekürzt, öffentliche Bauprojekte liegen auf Eis, viele Universitäten klagen über fehlende Mittel.
Stabilität – aber zu welchem Preis?
«Meine Freunde an öffentlichen Hochschulen haben grosse Probleme», sagt Welp. «Und meine pensionierte Mutter kommt nur mit familiärer Unterstützung über die Runden.» Besonders Rentner, Menschen mit Behinderung und Familien mit geringem Einkommen seien die Verlierer des Kurses.
Angel Fisicaro (29) ist es sich gewohnt, mit wenig auszukommen. Er studiert Fotografie und arbeitet als Verwaltungsangestellter in der nordargentinischen Provinz Tucumán und verdient rund 75’000 Pesos im Monat. Umgerechnet sind das etwa 40 Franken. «Ich habe die Inflation mein ganzes Leben erlebt», sagt er. «Seit Milei regiert, ist die Lage stabiler.»
Jetzt, im Vorfeld der Wahlen, würden viele in seinem Umfeld Geld horten oder Dollar kaufen, um sich gegen mögliche Turbulenzen abzusichern.
Fisicaro sieht die Einschnitte der Regierung mit gemischten Gefühlen. «Klar, manche Massnahmen waren hart», sagt er, «aber ich halte die Begründungen dafür insgesamt für nachvollziehbar.» Seit seinem 17. Lebensjahr arbeitet er, hat Währungsreformen, Krisen und Preisschübe erlebt. «Das Geld wurde immer weniger wert. Jetzt scheint es wenigstens etwas Ruhe zu geben.»
Resignation statt Empörung
Yanina Welp sagt: «Viele sind nicht begeistert von Milei, aber sie sehen keine bessere Alternative. Das Vertrauen in die Politik ist erschöpft.» Zwar hätten die zahlreichen Skandale um den Präsidenten – Korruptionsvorwürfe gegen Mileis Schwester Karina (52), der Rücktritt eines Spitzenkandidaten wegen mutmasslicher Drogenverbindungen und ein Krypto-Skandal – seinem Ansehen geschadet, doch nicht so stark, wie man in Europa vielleicht annehmen würde. «Die Menschen sind Skandale gewohnt», sagt Welp. «Sie sind eher müde, als dass sie empört sind.»
Umfragen sehen Mileis Partei inzwischen bei 35 bis 40 Prozent, in etwa gleichauf mit der Opposition. 2023 war er mit 56 Prozent der Stimmen gewählt worden. «Das gefährlichste Szenario für ihn ist, dass die Menschen einfach zu Hause bleiben und nicht wählen gehen», meint Welp. Denn die Wahlbeteiligung sei zuletzt deutlich gesunken. Zwar gilt in Argentinien Wahlpflicht, doch wer nicht erscheint, muss kaum Konsequenzen fürchten.
Ausgang ungewiss
Einen klaren Machtwechsel erwartet Welp nicht. «Weder die Peronisten noch Milei werden als eindeutige Sieger hervorgehen», sagt sie. Entscheidend sei, ob der Präsident genug Stimmen erhalte, um seine Dekrete abzusichern – oder ob er zu Koalitionen gezwungen werde. «Wichtiger als der 26. Oktober ist der 27. – der Tag danach. Dann wird sich zeigen, ob Milei bereit ist, zu verhandeln.»
Für Angel Fisicaro ist klar: Seine Stimme gehört Javier Mileis Partei La Libertad Avanza. Auch wenn in seiner Heimatprovinz Tucumán traditionell der Peronismus, die Bewegung, die seit Jahrzehnten abwechselnd regiert und gestürzt wird, dominiert.
In Tucumán heisse es: «Más vale malo conocido que bueno por conocer.» Lieber nehme man das Übel, das man schon kenne, als das ungewisse Gute.