Darum gehts
Das Urteil am Mittwoch ist eindeutig. Sean Combs alias P. Diddy, alias Puff Daddy, alias Love – also der Mann, der gerade acht Wochen lang in einem holzgetäfelten Gerichtssaal gesessen hat – hört es mehrmals: «Not guilty». Er fällt am Schluss auf die Knie und verbirgt sein Gesicht im Polster eines Stuhls, den er sich gekrallt hat. Er betet.
Sean Combs, der berühmte Hip-Hop-Mogul, ist noch einmal davongekommen.
Die Geschworenen sprachen ihn in den meisten Anklagepunkten frei. Vor allem in den schwerwiegendsten, ein kriminelles Unternehmen geleitet und Sexhandel mit zwei Ex-Freundinnen als Opfer betrieben zu haben. Ein Schuldspruch hätte lebenslang bedeutet. Und wäre Combs’ Untergang gewesen. Nun kommt er wohl nach wenigen Jahren frei und steigt vielleicht wieder zu alter Grösse auf. So etwas ist möglich in den heutigen USA.
Mit dem Spruch der Geschworenen geht einer der aufsehenerregendsten Missbrauchsprozesse seit der Affäre um den Hollywoodproduzenten Harvey Weinstein zu Ende. Reporterinnen und Reporter aus der ganzen Welt berichten über den Fall. Alle Augen sind auf den Schauplatz New York gerichtet. Alle wollen wissen: Was passiert mit diesem Superstar? Was geschieht gerade mit den USA?
Beides hängt zusammen.
Diddy konnte sich alles erlauben
Das milde Urteil im Fall Combs ist Ausdruck eines Backlash nach der Ära von #MeToo, in der mit Vergewaltigern wie Weinstein und R. Kelly abgerechnet wurde. So und ähnlich kommentieren es namhafte Medienhäuser aus den USA und aller Welt. Und aus der MeToo-Szene ertönt ein Aufschrei. Zu den Ersten gehörte die Schauspielerin Rosie O’Donnell mit ihrem Instagram-Post: «Ich schätze, eine Jury will einfach nie glauben, dass Frauen wegen Macht und Zwang (bei einem Mann) bleiben, wow!»
Das Urteil haben Geschworene gefällt: acht Männer und drei Frauen aus dem Volk. Sie glauben den beiden Ex-Freundinnen «Jane» und Cassie Ventura nicht. Auch nicht, dass Combs sie mit Gewalt, Erpressung und Drogen dazu gebracht hat, an tagelangen Sexorgien – «Freak-Offs» – teilzunehmen. Dabei lässt das berüchtigte Überwachungsvideo aus einem Hotel in L.A. keinen Zweifel daran. Man sieht, wie Ventura einer Orgie entfliehen will, und der nur mit einem Handtuch bekleidete Combs ihr im Hotelflur nachrennt, sie an den Haaren zu Boden reisst, auf sie eintritt und versucht, sie zurück in die Suite zu schleifen.
Es sind die Exzesse eines Mannes, der sich alles erlauben konnte. Und nun damit durchkommt. Es ist die Kehrseite des amerikanischen Traums. Sean Combs war bis vor kurzem einer der mächtigsten Männer im Showbiz. Er war ganz oben angekommen, angefangen hat er ganz unten.
Schwierige Kindheit
Combs wurde 1969 im New Yorker Schwarzenviertel Harlem geboren. Seine Mutter Janice war Model und Schulaushilfe, den Vater Melvin, einen Drogendealer, fand die Polizei 1972 mit zwei Kopfschüssen zusammengesackt in einem Auto.
Die Mutter zog mit der Familie in die sichere Kleinstadt Mount Vernon. Dort lernte der kleine Combs den Jungen Tim Patterson kennen. Im Film «Diddy: The Making of a Bad Boy» berichtet er über Combs, er sei Messdiener gewesen, habe Baseball gespielt und es in die Fussballmannschaft einer katholischen Privatschule geschafft. Der junge Schwarze wollte dazugehören. Doch seine Mitschüler konnten laut Patterson «riechen, dass er nicht hart war», und hätten ihn gemobbt.
Combs Mutter hatte kein Gehör dafür. Musste wochentags mit einem schlecht bezahlten Job ihre Kinder durchbringen. Und gab am Wochenende wilde Partys. Partys, an denen Kinder eigentlich nichts zu suchen haben. Für Combs und seine Freunde war es normal, in einen Raum zu kommen und Erwachsene beim Sex zu sehen. Alkohol, Gras, Kokain, alles war offen zugänglich. «Das ist es, was wir mitbekommen haben; das ist es, womit wir gefüttert wurden», sagt Patterson. «Hat uns das desensibilisiert?» Combs Kindheitsfreund macht eine Pause: «Ich bin sicher, dass es so war.»
Die Herkunft, diese Abgründe – der junge Afroamerikaner holte daraus seinen Antrieb. Combs hatte schon früh nur ein Ziel, wie er sagte: an die Spitze zu kommen. Drunter machte er es nicht. Sein ehemaliger PR-Berater Rob Shuter, der ihn lang begleitete, sagte kürzlich gegenüber dem TV-Sender ABC: «Puffy sagte mir immer, er wolle der berühmteste Mann der Welt sein.» Und er schaffte es fast.
Combs produzierte Nummer-eins-Hits, sahnte Musikpreise ab, schuf sein eigenes Modelabel. Und sammelte Promi-Freunde. Das gelang ihm ab den Neunzigern mit etwas, was er bei seiner Mutter gesehen hatte: den legendären White Partys auf seiner Yacht oder in den noblen Hamptons bei New York. Leonardo DiCaprio, Jay-Z, Beyoncé oder Salman Rushdie – alle wollten dabei sein. Laut Shuter war das Kalkül. «Combs wollte sich mit den Partys zum König von New York machen.» Er, Combs, habe gewusst: Wenn er das schaffe, werde alles andere folgen.
Das neue Amerika der Männer
Nun ist all das weit weg. Der König ist von seinem Thron gestürzt. Es kann gut sein, dass er ihn wieder besteigt. Die Zeiten von #MeToo und Wokeness sind vorüber. Das Pendel ist ins andere Extrem ausgeschlagen: die Manosphere, die Welt der starken, traditionellen Männer. Sie haben Trump ins Amt verholfen. Und gleich nach dessen Wahl das Netz mit einer klaren Botschaft an die Frauen geflutet: «Dein Körper, meine Wahl.»
Früher konnten Vergewaltigungsvorwürfe einen Politiker zu Fall bringen. Schlimmstenfalls ungeprüft, bestenfalls nachgewiesen. Jedenfalls war es ein Ereignis. Heute zuckt man nur noch mit den Schultern. Das zeigt die Zusammensetzung der US-Regierung:
Verteidigungsminister Pete Hegseth hat einer Frau 50'000 US-Dollar Schweigegeld bezahlt, weil sie ihn der Vergewaltigung beschuldigt hatte. Das gab er im Senat zu.
Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. soll eine ehemalige Babysitterin begrabscht haben. Er bestreitet das.
Und natürlich der Präsident, Donald Trump himself: verurteilter Sexualstraftäter. 1996 hat er die Autorin E. Jean Carroll in einem New Yorker Nobelkaufhaus sexuell missbraucht. Das Urteil wurde 2024 bestätigt.
Werden künftige Opfer nun schweigen?
Die beiden Minister wurden nicht verurteilt. Dennoch hat das alles Signalwirkung.
Im Februar zogen die berühmten Frauenhasser Andrew und Tristan Tate von Rumänien nach Florida. Die Brüder stehen unter dem Verdacht des Menschenhandels und der Vergewaltigung. Ihr Anwalt sagte über den Umzug: «Sie fühlen sich in Amerika aus mehreren Gründen sicher, der wichtigste ist, dass Donald Trump Präsident ist.»
Und nun das Urteil im Fall Sean «Diddy» Combs. Es könnte Folgen für US-Frauen haben. Für dessen zwei Ex-Freundinnen war der Prozess ein Spiessrutenlauf. Combs Verteidiger erniedrigten sie nonstop. In seinem Schlussplädoyer sagte der Hauptverteidiger, Ventura sei eine Frau, die Sex sehr möge – «gut für sie!». Er machte Witze über sie, äffte sie nach und warf ihr vor, nur auf Combs’ Millionen aus zu sein.
Welches Opfer sexueller Gewalt traut sich da künftig noch, über seine Leiden zu sprechen, geschweige denn vor Gericht zu ziehen?