Darum gehts
- Israel unter Druck wegen Gaza-Einsatz: EU-Kommissarin spricht von Völkermord
- Angehörige von israelischen Geiseln drängen auf Rückkehr an Verhandlungstisch
- Israel fordert Freilassung aller Geiseln auf einen Schlag, Hamas will Truppenabzug
Israel gerät wegen des militärischen Vorgehens im Gazastreifen immer mehr unter Druck. Die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Teresa Ribera, die schon länger als entschiedene Kritikerin des israelischen Militäreinsatzes gilt, sprach nun erstmals ausdrücklich von Völkermord. Der «Genozid in Gaza» entlarve «Europas Versagen», gemeinsam zu handeln und mit einer Stimme zu sprechen, sagte sie in Paris. Die EU-Kommission als Institution hat den Begriff im Zusammenhang mit Gaza bisher nicht verwendet.
Israel wies die Äusserung Riberas zurück. Die Spanierin habe sich «zum Sprachrohr der Hamas-Propaganda» gemacht, teilte das Aussenministerium mit.
Armeesprecher: Stadt zu 40 Prozent unter Kontrolle
Angehörige der von der islamistischen Terrororganisation im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln fordern die sofortige Rückkehr zu Verhandlungen über ein Abkommen. Vorerst treibt Israels Militär jedoch die Vorbereitungen für die heftig umstrittene Einnahme der Stadt Gaza im Norden des abgeriegelten Küstengebiets voran, in der sich nach Schätzungen rund eine Million Menschen aufhalten.
Man habe jetzt «die operative Kontrolle über 40 Prozent der Stadt», sagte Armeesprecher Effie Defrin am Donnerstag. Der Einsatz werde in den kommenden Tagen ausgeweitet und intensiviert. «Wir werden den Druck auf die Hamas erhöhen, bis sie endgültig besiegt ist». Die Mobilisierung von Reservisten gehe weiter.
Keine Fortschritte bei Geisel-Verhandlungen
Derweil laufen im Hintergrund weiter Bemühungen der Vermittler um ein Abkommen zur Beendigung des Krieges und die Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln. Der US-Sondergesandte Steve Witkoff habe sich diesbezüglich am Donnerstag in Paris mit Vertretern Katars getroffen, berichtete der israelische Sender Channel 12 unter Berufung auf zwei informierte Quellen. Bislang gebe es jedoch keine Fortschritte in den Verhandlungen – «hauptsächlich wegen der israelischen Position».
Die Hamas hatte am Mittwoch mitgeteilt, sie warte weiterhin auf eine Antwort Israels auf den Vorschlag der internationalen Vermittler für eine Waffenruhe. Man sei bereit zu einem «umfassenden Abkommen», das eine Freilassung aller Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge vorsieht. In einer Stellungnahme des Büros des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanyahu hiess es jedoch, die Mitteilung der Hamas sei manipulativ und enthalte nichts Neues.
Angehörige kritisieren Netanyahu
Das Forum der Angehörigen der israelischen Geiseln forderte daraufhin Netanyahu und die Vermittler dazu auf, umgehend an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Laut Medienberichten hatte sich auch Israels Armeechef Ejal Zamir bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts in der Nacht auf Montag für einen Deal zur Freilassung weiterer Geiseln in der Gewalt der Hamas ausgesprochen.
In einer Mitteilung des Forums der Geiselangehörigen hiess es am Donnerstag: «Ganz Israel sehnt sich nach einer Sache: der Umsetzung des Witkoff-Vorschlags im Rahmen einer umfassenden Vereinbarung, die alle 48 Geiseln nach Hause bringt und diesen Krieg beendet.» Der Vorschlag sah eine 60-tägige Waffenruhe vor, während der zunächst zehn lebende Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freikommen.
Netanyahu beharrt jedoch inzwischen auf einem umfassenden Deal, bei dem alle Geiseln auf einen Schlag freigelassen werden, nicht wie bei früheren Vereinbarungen nach und nach in mehreren Gruppen. Von den 48 Geiseln, die sich in Gaza befinden, sind nach israelischen Informationen noch 20 am Leben. Bei den anderen geht es demzufolge um die Überstellung ihrer sterblichen Überreste.
Hamas fordert Truppenabzug
Zudem pocht Netanyahu auf eine Kapitulation und Entwaffnung der Hamas – was die Islamisten ablehnen. Ob sie bereit wären, alle verbliebenen Geiseln auf einmal freizulassen, ist nach den jüngsten öffentlichen Äusserungen unklar. Ein weiterer Streitpunkt: Israel will die Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen behalten, während die Hamas den Abzug der israelischen Truppen fordert.
Generalstabschef Zamir hatte laut dem Nachrichtenportal «net» bei der Sitzung des Sicherheitskabinetts gewarnt, dass eine Einnahme der Stadt Gaza zu einer israelischen Militärverwaltung führen würde. Der Grund sei, dass die politische Führung keine Alternative für die Zeit nach dem Krieg vorbereite. Eine Militärverwaltung durch Israel würde Hoffnungen auf eine Zweistaatenlösung einen weiteren Dämpfer verpassen. Frankreich und andere Staaten wollen bei der nächsten Uno-Vollversammlung in diesem Monat einen Staat Palästina anerkennen.
Emmanuel Macron unerwünscht
Israels Regierung lehnt eine solche Anerkennung kategorisch ab. Deswegen erteilte sie einem möglichen Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Israel eine Absage. Aussenminister Gideon Saar liess wissen, er habe in einem Telefonat mit seinem französischen Kollegen Jean-Noël Barrot gesagt, er sehe «keinen Raum» für einen solchen Besuch, solange Frankreich an seinem Vorstoss festhalte. Offizielle Pläne für einen möglichen Besuch Macrons in Israel sind nicht bekannt.
Die Anerkennung eines Staates Palästina wäre aus Sicht der israelischen Regierung eine «Belohnung für die Hamas» nach dem Massaker im israelischen Grenzgebiet am 7. Oktober 2023 und eine existenzielle Bedrohung für den jüdischen Staat. Bei dem Terrorüberfall waren rund 1200 Menschen in Israel getötet und mehr als 250 weitere in den Gazastreifen verschleppt worden.
Das Massaker war der Auslöser des Gaza-Krieges. Seither wurden laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde im Gazastreifen mehr als 64'200 Palästinenser in dem dicht besiedelten Küstengebiet getötet. Die unabhängig kaum überprüfbare Zahl unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern.
Der Begriff Genozid (Völkermord) bezeichnet laut Uno-Konvention die Absicht, eine Bevölkerungsgruppe zu zerstören. Das israelische Aussenministerium erklärte zu Riberas Äusserungen: «Anstatt die von der Hamas verbreitete «Völkermord»-Legende nachzuplappern, hätte Ribera die Freilassung aller Geiseln und die Niederlegung der Waffen durch die Hamas fordern sollen, damit der Krieg beendet werden kann.» Die für Wettbewerbspolitik und grünen Wandel zuständige EU-Kommissarin hatte den Begriff in einer Rede an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po verwendet.