«Dann wäre dieser Krieg sofort zu Ende gewesen»
Deutscher Kanzler und türkischer Präsident streiten wegen Gaza

Der deutsche Kanzler Friedrich Merz und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan haben sich nach ihrem Treffen in Ankara eine offene Auseinandersetzung über den Gaza-Konflikt geliefert.
Publiziert: 17:18 Uhr
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Aktualisiert: 17:19 Uhr
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Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) wird von Recep Tayyip Erdogan (r), Präsident der Türkei, vor dem Präsidialpalast begrüßt. Merz hält sich zu seinem Antrittsbesuch in der Türkei auf. Foto: Michael Kappeler/dpa
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Keystone-SDADie Schweizer Nachrichtenagentur

Während Merz sich klar an die Seite Israels stellte, warf Erdogan dem Land bei einer gemeinsamen Pressekonferenz erneut «Völkermord» vor. Israel habe trotz des Waffenstillstands wieder Ziele in Gaza angegriffen. «Sie greifen Gaza nicht nur an, sondern waren stets darauf bedacht, Gaza mit Hunger und Genozid gefügig zu machen, und das dauert immer noch an», sagte Erdogan.

Erdogan widersprach damit ausdrücklich dem deutschen Regierungschef, der - von einem türkischen Journalisten auf den Gaza-Krieg angesprochen - sagte: «Israel hat von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht, und es hätte nur einer einzigen Entscheidung bedurft, um auch die zahllosen unnötigen Opfer zu vermeiden.» Die islamistische Hamas hätte die Geiseln früher freilassen sollen und die Waffen niederlegen müssen. «Dann wäre dieser Krieg sofort zu Ende gewesen.»

«Bei einem Punkt kann ich dem Herrn Kanzler leider nicht zustimmen»

Israel sei ein Zufluchtsort für Millionen Jüdinnen und Juden geworden - viele, die den Holocaust überlebt hätten. «Deswegen wird es immer so sein, dass Deutschland fest an der Seite des Staates Israel steht.»

Erdogan sagte daraufhin: «Bei einem Punkt kann ich dem Herrn Kanzler leider nicht zustimmen.» Die Hamas habe keine Nuklearwaffen und keine Bomben, aber Israel verfüge über all diese Waffen und habe Gaza trotz des Waffenstillstands wieder bombardiert.

Die Türkei verfügt über gute Kontakte zur palästinensischen Terrororganisation Hamas. Bei der Vermittlung der Waffenruhe im Gazastreifen vor gut zwei Wochen hatte Ankara eine wichtige Rolle gespielt.

«Wir wünschen uns, dass die Türkei weiter auch ihre Möglichkeiten ausschöpft»

Die damals besiegelte Waffenruhe ist inzwischen brüchig. Offen ist noch, wie die nächsten Schritte im Friedensprozess umgesetzt werden können. Dazu gehört unter anderem die Entwaffnung der islamistischen Hamas. Merz hofft darauf, dass die Türkei auf sie einwirkt. «Wir wünschen uns, dass die Türkei weiter auch ihre Möglichkeiten ausschöpft, etwa indem sie die Hamas dazu veranlasst, nun auch in die zweite Phase dieses Abkommens einzutreten», sagte der Christdemokrat.

Die Rolle der Türkei im Nahost-Konflikt ist eins von mehreren Themen, wegen derer die neue deutsche Regierung die lange Zeit von offenen Differenzen geprägten Beziehungen zur Türkei wieder zu einer echten strategischen Partnerschaft machen will.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei war in der seit mehr als 20 Jahren anhaltenden Ära Erdogans viele Jahre von harten Auseinandersetzungen über Menschenrechtsverletzungen, inhaftierte Deutsche und türkische Militäreinsätze geprägt.

Ehefrau von Merz mit dabei

Die zunehmende Bedeutung der Türkei auch in der Migrationspolitik und als Vermittler im Ukraine-Krieg hat schon unter der vorherigen deutschen Regierung des sozialdemokratischen Kanzlers Olaf Scholz zu einem Entspannungskurs geführt, der jetzt von der seit Mai amtierenden Merz-Regierung aus Christ- und Sozialdemokraten fortgesetzt wird.

Der Antrittsbesuch des Kanzlers war deswegen ganz darauf ausgelegt, neue Harmonie ins deutsch-türkische Verhältnis zu bringen. Erstmals wurde der Kanzler von seiner Ehefrau Charlotte zu einem rein bilateralen Besuch im Ausland begleitet - eine seltene Geste der Freundschaft.

«Lassen Sie uns das enorme Potenzial unserer Beziehungen noch besser nutzen»

In der Pressekonferenz warb Merz zunächst auch eindringlich für die Vertiefung der beiderseitigen Beziehungen. «Als Deutsche und als Europäer müssen wir unsere strategischen Partnerschaften ausbauen. Und dabei führt kein Weg an einer guten und vertieften Partnerschaft mit der Türkei vorbei», sagte er.

«Lassen Sie uns das enorme Potenzial unserer Beziehungen in den kommenden Monaten und Jahren noch besser nutzen.» Der konservative Kanzler nannte die Verbindung zwischen Deutschland und der Türkei «in einer einzigartigen Weise breit und tief».

Merz sicherte Erdogan deutsche Unterstützung bei der angestrebten EU-Mitgliedschaft der Türkei zu. «Ich sehe persönlich und die Bundesregierung sieht die Türkei eng an der Seite der Europäischen Union. Wir wollen den Weg nach Europa weiter ebnen.» Er setze sich auch für einen strategischen Dialog mit der Türkei auf europäischer Ebene ein. Von türkischen Analysten wurde das als neue Tonlage bei diesem Thema gewertet.

Besorgnis über die Unabhängigkeit der Rechtssprechung

Merz wies aber zugleich auf die Kopenhagener Kriterien für eine Aufnahme in die EU hin, die unter anderem die Aufrechterhaltung von Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Menschenrechte vorsehen.

Erdogan betonte unter anderem, das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern, das derzeit 50 Milliarden US-Dollar beträgt, auf 60 Milliarden US-Dollar steigern und die Rüstungskooperation ausbauen zu wollen.

Auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit brachen die Differenzen wieder auf. In seinen Gesprächen mit Erdogan habe er Besorgnis über die Unabhängigkeit der Rechtssprechung geäussert, sagte Merz nur kurz. Nach Einschätzungen von Menschenrechtlern hat der Druck auf unabhängige Medien, kritische Stimmen und Oppositionsparteien in der Türkei in den zurückliegenden Monaten einen neuen Höhepunkt erreicht. 

Ohne Anklage in U-Haft

Erdogan ging auf eine Journalistenfrage hin deutlich ausführlicher auf die Inhaftierung des abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters und populären Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu ein und verteidigte das Vorgehen der Justiz: «Egal welches Amt man innehat, sobald jemand die Justiz mit Füssen tritt, müssen die Justizorgane in einem Rechtsstaat eben das tun, was notwendig ist.» Imamoglu war im März wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet und abgesetzt worden. 

Er ist seitdem ohne Anklage in Untersuchungshaft. Kurz vor Merz' Besuch war bekanntgeworden, dass gegen den Politiker der grössten Oppositionspartei CHP erneut ein Haftbefehl wegen Spionage erlassen worden war. Imamoglus Festnahme hatte die grösste Protestwelle in der Türkei seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 ausgelöst.

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