Die Affäre um den preisgekrönten ehemaligen «Spiegel»-Reporter, Claas Relotius (35), erschütterte 2018 die Medienlandschaft. Der Journalist hatte viele Passagen seiner Texte frei erfunden.
Nun spricht der Deutsche erstmals öffentlich über den Skandal. Dem Magazin «Reportagen» gibt er ein langes Interview, versucht, zu erklären, warum er immer weiter Texte fälschte und Geschichten erfand: «Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten.»
Nach der Aufdeckung des Skandals befand sich Relotius für sechs Monate in stationärer psychiatrischer Behandlung. Nach seiner Entlassung kam es dann zum Interview mit dem Magazin.
«Mein Verhalten hat Verschwörungstheorien bestätigt»
«Ich habe riesigen Mist gebaut. Das habe ich versucht, mit professioneller Hilfe aufzuarbeiten, und ich versuche es bis heute», sagt Relotius. Dennoch könne er nicht erklären, was ihn zu seinen Taten getrieben habe. «Ich hatte jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen.»
Relotius sieht sich nun offenbar in der Verantwortung gegenüber seinen Berufskollegen. «Es gibt Leute, die an eine sogenannte Lügenpresse glauben oder daran, dass Journalisten arrogante Menschen seien. Mein Verhalten hat diese Verschwörungstheorien scheinbar bestätigt. Ich kann das nicht wiedergutmachen, aber versuchen zu erklären, dass mein Handeln nichts damit zu tun hatte, sondern mit meinen persönlichen Fehlern.»
Relotius hörte Stimmen
Zu seiner Zeit in der Therapie und um den Realitätsverlust sagt er: «Ich war jeden Tag mit den Fragen von aussen konfrontiert und habe mich weitgehend mit dem öffentlichen Bild identifiziert, mich selbst als skrupellosen, gewinnsüchtigen Menschen gesehen.»
Offenbar erlebte er bereits in der Vergangenheit mehrwöchige psychotische Krisen. «Nach einer Rückkehr aus Albanien bin ich über mehrere Tage in ein Waldstück bei Hamburg gegangen, um nach einem Störsender zu suchen, der meine Gedanken blockiert und die Kommunikation mit anderen Menschen verhindert», sagt Relotius.
Doch von seinen Waldgängen habe er keinem erzählt. «Ich habe mich geschämt, wenn mir das Entrückte in irgendeiner Weise klargeworden ist. Es wird einem aber nicht immer klar. Ich kenne andere Menschen mit psychischen Erkrankungen, aber ich habe mich selbst nicht als krank wahrgenommen.»
Er erzählt, dass er Stimmen gehört hat, dass er sich an verschiedene Begebenheiten nicht mehr erinnern kann. «Einmal stand ich nachts auf der Zoobrücke im Gegenverkehr und wusste nicht, warum.»
Moreno recherchierte gegen Relotius
Aufgedeckt wurde der Fall nach internen Hinweisen und eigenen Recherchen der Redaktion. Bei der Zusammenarbeit mit Relotius waren «Spiegel»-Mitarbeiter Juan Moreno Unstimmigkeiten aufgefallen. Er recherchierte weiter und entdeckte, dass der mehrfach preisgekrönte Star-Journalist unzählige seiner gefeierten Reportagen und Porträts gefälscht hatte. Später veröffentlichte Moreno das Buch: «Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus».
Relotius hatte nach anfänglichem Leugnen eingeräumt, dass er viele Passagen nicht nur in dem einem Text, sondern auch in anderen erfunden habe. Auch sei er Protagonisten, die er in seinen Storys zitiert habe, nicht begegnet.
«Allerwenigsten Texte» sind journalistisch korrekt
Der Journalist schrieb erst als freier Mitarbeiter für den «Spiegel», eineinhalb Jahre vor dem Skandal wurde er als fester Redaktor eingestellt. Er hatte mit seinen Reportagen mehrere Preise abgeräumt. Doch um Ruhm sei es ihm offenbar nicht gegangen. «Wenn es mir um Journalistenpreise gegangen wäre, hätte es genügt, in sechs prestigeträchtigen Reportagen gezielt zu erfinden, nicht wahllos in 60 und nie in diesem Ausmass.»
Doch gibt es von ihm auch journalistisch korrekte Texte? «Nach allem, was ich heute über mich weiss, wahrscheinlich die allerwenigsten. Bei einigen Texten kann ich es einfach nicht sicher sagen. Ich bin erschrocken über mich selbst, noch immer, und es tut mir aufrichtig leid.» (man)