Darum gehts
In einer Welt, in der ein schlanker Körper als Statussymbol gilt, muss ein Medikament, das den Appetit zügelt, wie ein Verrat am gesellschaftlichen Ideal wirken. Nur so ist zu erklären, warum Menschen, die mit GLP-1-Medikamenten wie Wegovy oder Mounjaro abnehmen, derart verurteilt werden.
Ein Blick des Beobachters auf die Kommentare in den sozialen Netzwerken zeigt das Ausmass der Ablehnung: «Einfach zu faul, um sich zu bewegen», «Man könnte auch einfach weniger Fast Food reinstopfen!», «Wie kann man überhaupt so viel fressen, um so fett zu werden?». Oder aber: «Sich einfach das Fett wegspritzen ist Beschiss.»
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Diese Feindseligkeit wirkt recht befremdlich. Vor allem wenn man bedenkt, dass Adipositas zu den grössten Gesundheitsrisiken der Gegenwart gehört – und die «Abnehmspritze» insofern zu den grössten medizinischen Fortschritten der letzten Jahre.
Darum ist Übergewicht so gefährlich
Adipositas erhöht die Wahrscheinlichkeit von Typ-2-Diabetes, Fettleber, Gicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck und Schlaganfall. Auch Atemprobleme sind häufig. Und besonders alarmierend: Starkes Übergewicht steigert das Risiko für mehr als 15 Krebsarten, darunter Brust-, Prostata-, Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Schwere Adipositas verkürzt die Lebenserwartung laut Studien um bis zu zehn Jahre. Allein in der Schweiz sind 43 Prozent der Bevölkerung übergewichtig oder adipös. Weltweit sind es gemäss Weltgesundheitsorganisation (WHO) über 2,5 Milliarden Menschen.
Die Abnehmspritze als Bedrohung
Insofern sagt die Kritik an der medikamentösen Abnehmhilfe wenig über die Relevanz einer solchen Behandlung aus. Aber sie verrät viel über unsere Gesellschaft, die ihren Körperidealen offenbar nicht nur Status, sondern auch Moral zuschreibt. Katja Rost, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Zürich, sieht in der Empörung ein klassisches Muster der sozialen Abgrenzung: «Schlanksein ist heute ein rares Gut und gesellschaftlich hoch angesehen – gerade weil es als hart erarbeitet gilt.» Genau diese Exklusivität gerät nun ins Wanken.
GLP-1-Medikamente bedrohen insofern all diejenigen, die bis heute Prestige aus ihrem schlanken Körper ziehen – weil er Disziplin, Verzicht und Kontrolle symbolisiert. «Für sie wird Schlankheit plötzlich entwertet, weil sie zum Massenphänomen zu werden droht», erklärt Rost. Gleichzeitig gerät auch eine zweite Gruppe unter Druck. Diejenigen nämlich, die bisher erfolglos versuchten, sich mit ihrem Körper zu versöhnen.
«Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber übergewichtigen Menschen könnte durch die Verbreitung von GLP-1-Medikamenten weiter sinken», mutmasst die Sozialwissenschaftlerin. Wer nicht abnimmt, obwohl «es doch so einfach geht», riskiert, in Zukunft noch schärfer verurteilt zu werden. Entsprechend wächst die Erwartung, dass man es anderen gleichtut.
Keine Frage der Disziplin
Das Hauptproblem sieht Philipp Gerber im Missverständnis darüber, was Adipositas überhaupt ist: «Menschen sind nicht adipös, weil sie übergewichtig sind. Sie sind übergewichtig, weil sie Adipositas haben.» Diese korrekte Identifikation von Ursache und Konsequenz sei zentral, meint der leitende Arzt für Endokrinologie am Unispital Zürich, um starkes Übergewicht nicht als Charakterschwäche, sondern als chronische Erkrankung anzuerkennen.
Adipositas sei eben nicht einfach eine Folge von falschen Essentscheidungen – also von mangelnder Disziplin –, sondern Ausdruck eines komplexen Zusammenspiels aus genetischen, hormonellen und neurologischen Prozessen.
Besonders entscheidend ist gemäss Endokrinologe Gerber das Körpergewicht im Kindesalter. Eine Übersichtsarbeit der britischen University of York kam zum Schluss, dass fettleibige Kinder etwa fünfmal so häufig auch im Erwachsenenalter starkes Übergewicht haben wie normalgewichtige Kinder. Je früher das Übergewicht beginnt, desto geringer sind zudem die Chancen auf eine langfristige Normalisierung.
Forschende aus Deutschland haben zudem herausgefunden, dass sogar das Gewicht von Mutter und Vater vor der Empfängnis das Risiko für Übergewicht beim Kind erhöhen kann. Grund dafür dürfte sein, dass der Stoffwechsel des Kindes schon früh durch die elterliche Veranlagung beeinflusst wird.
Betroffene fühlen sich schuldig
Auch die amerikanische Endokrinologin Rocio Salas-Whalen beschreibt Adipositas als multifaktorielle chronische Erkrankung. Neben der Genetik würden Lebensstil, hormonelle Veränderungen, Alterungsprozesse und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle spielen. Nur einen dieser fünf Bereiche – den Lebensstil – könne man selbst beeinflussen. «Wir setzen die Patienten enorm unter Druck, Faktoren zu überwinden, die gar nicht in ihrer Kontrolle liegen. Viele Betroffene fühlen sich deshalb schuldig. Völlig zu Unrecht», sagt Salas-Whalen in einem Podcast mit der amerikanischen Autorin Mel Robbins.
Hormonelle Herausforderungen wie Schilddrüsenunterfunktionen können den Stoffwechsel verlangsamen. In den Wechseljahren beziehungsweise generell mit zunehmendem Alter verschiebt sich ausserdem das Verhältnis von Muskel- und Fettmasse. Auch das begünstigt die Gewichtszunahme. Hinzu kommen Umweltfaktoren: «Wir leben in einer industrialisierten Welt, die Fettleibigkeit fördert», sagt Salas-Whalen.
Zucker und Fett sind wie Drogen
Die vielleicht grösste Rolle spielt aber die Lebensmittelindustrie selbst: Sie weiss genau, wie sie unsere Schwächen nutzen kann – und entwickelt Produkte, die just dort ansetzen und uns süchtig machen sollen. Der amerikanische Journalist Michael Moss beschreibt das in seinem Buch «Hooked» eindrücklich: Zucker sei das Methamphetamin, Fett das Opiat. Die Industrie nehme genau diejenigen Inhaltsstoffe, die wir am meisten lieben, raffiniere sie und kombiniere sie so, dass sie unser Belohnungssystem regelrecht überfluten – ähnlich wie harte Drogen.
Obwohl die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten viel über die Ursachen von Übergewicht gelernt hat, hält sich das moralische Urteil über dicke Körper hartnäckig. Und dies nicht nur in der breiten Bevölkerung, sondern auch dort, wo es besonders gefährlich ist: im Gesundheitswesen. Mehrere Studien zeigen, dass medizinisches Fachpersonal häufig voreingenommen gegenüber adipösen Patientinnen und Patienten ist.
Auch Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachpersonen schätzen Übergewicht irrtümlicherweise als Resultat fehlender Disziplin ein, schreiben Beschwerden vorschnell dem Gewicht zu oder behandeln adipöse Menschen weniger sorgfältig. Diese Form von Diskriminierung kann nicht nur demoralisieren, sie gefährdet auch die Gesundheit: durch Fehldiagnosen, verspätete Therapien und die Vermeidung wichtiger Vorsorgeuntersuchungen.
Die wahre Sprengkraft von GLP-1
Womöglich liegt die wahre Sprengkraft von GLP-1-Medikamenten somit nicht nur in ihrer Wirkung auf den Körper, sondern insbesondere auch auf unser Denken. Sie korrigieren ein gestörtes Sättigungssignal, das bei vielen Menschen aus genetischen, hormonellen oder neurologischen Gründen entgleist ist.
Und gleichzeitig – so zumindest die Hoffnung – führen sie in den Köpfen zur längst überfälligen Einsicht: Adipositas ist nicht das Resultat von Willensschwäche, sondern eine chronische Erkrankung. Eine, die es verdient, ernst genommen und behandelt zu werden – wie jede andere Erkrankung auch.
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 11. August 2025 veröffentlicht.