Vor 30 Jahren sass sie am Webstuhl im Textilunternehmen ihres Vaters, um sich etwas Sackgeld zu verdienen. Heute ist Andrea Berlinger (52) selbst die Chefin von über 100 Mitarbeitenden und leitet die Berlinger Group in Ganterschwil SG in der sechsten Generation.
Webstühle stehen da längst keine mehr. Das ehemalige Textilunternehmen fertigt heute Hightechgeräte, die die Temperatur beim Transport und der Lagerung von Impfstoffen messen und kontrollieren. Damit überwacht Berlinger Corona-Impfstoff-Frachten von Vakzin-Herstellern wie Biontech/Pfizer und Moderna auf der ganzen Welt.
Fehler könnten Menschenleben kosten
«Wir tragen eine grosse Verantwortung», sagt Andrea Berlinger, als sie Blick am Firmensitz empfängt. Zeigt ihr Gerät Unregelmässigkeiten in der Kühlung auf, kann der Corona-Impfstoff nicht verabreicht werden.
Die Messungen müssen präzise sein. Fehler könnten Menschenleben kosten. Derzeit ist die Nachfrage nach Berlingers Geräten hoch. «Die Mitarbeiter in der Produktion machen Überstunden», so die Chefin.
Andrea Berlinger selbst hat wenig Ahnung von Elektrotechnik, wie sie offen zugibt. Die gebürtige Toggenburgerin absolvierte nach der Textilfachschule eine kaufmännische Ausbildung und ist viel gereist. Mit 22 Jahren beherrscht sie fünf Sprachen – und entscheidet sich, ins Textilunternehmen der Familie einzusteigen. Damals war die Firma im Umbruch: Die Textilbranche kriselte. Vater Berlinger erkannte dies und entschloss sich, auf Temperaturüberwachungssysteme umzustellen.
Kinder, Karriere, aber keine Kaderschule
Die sprachgewandte Tochter übernimmt die Kundenbetreuung im neuen Geschäftsfeld und baut Beziehungen auf der ganzen Welt auf – vor allem unter Impfstoff-Produzenten, was sich heute auszahlt. Für Weiterbildungen blieb ihr keine Zeit. «Learning by Doing», sagt die zweifache Mutter und lacht.
2008 übernimmt sie das Geschäft, gemeinsam mit ihrem Mann Daniel Schwyter (57). Berlingers zweites Standbein: die Produktion von manipulations- und fälschungssicheren Antidoping-Fläschchen für den Weltsport. Damit war die Berlinger Group 2016 in einen handfesten Skandal verwickelt.
Die «New York Times» berichtete, dass es Spezialisten des russischen Geheimdiensts gelungen sei, die Fläschchen zu öffnen. So sollen an den Olympischen Winterspielen in Sotschi zahlreiche Doping-Urinproben von russischen Sportlern manipuliert worden sein.
Mit allen per Du
Der Skandal stiess die Firma in eine der grössten Krisen in ihrer über 150-jährigen Geschichte. Doch sie schaffte den Turnaround. Daraufhin baute Andrea Berlinger die Firmenstruktur radikal um, gab die operative Führung ab, lenkt das Unternehmen jetzt als Verwaltungsratspräsidentin.
Der enge Austausch mit Produktionsmitarbeitern hält sie trotzdem bei. Sie ist mit allen per Du. Ein gesunder Teamgeist ist ihr wichtig, gerade in dieser Zeit. «Wir meistern diese Pandemie besser, weil wir krisenerprobt sind», ist Berlinger überzeugt.
Zu Beginn der Corona-Krise haperte es bei Lieferungen von Einzelteilen und Rohlingen aus Asien. Gleichzeitig stieg die Nachfrage nach Berlingers Geräten rasant an. Die Chefin und ihr Team mussten alle Kontakte anzapfen, um ihre Kunden – die grössten Pharmakonzerne der Welt – mit Temperaturmessgeräten versorgen zu können. Andrea Berlinger ist sich bewusst: «Wenn wir nicht produzieren, könnten Corona-Impfstoff-Lieferungen auf der ganzen Welt stillstehen.»
«Ich verspüre eine Verpflichtung»
In dieser Zeit entpuppt sich der Produktionsstandort Ganterschwil – zwischen Toggenburger Kuhweiden und Nebenstrassen – als Nadelöhr der durchgetakteten Produktionskette. «Würden wir an verschiedenen Standorten produzieren, wäre vieles einfacher und schneller gegangen», resümiert die Unternehmerin.
Sie schliesst nicht aus, dass die Firma in Zukunft eine Niederlassung in Asien eröffnen wird. In die USA hat Berlinger schon expandiert. «Der Hauptsitz und die Entwicklungsabteilung werden aber sicher in der Schweiz bleiben», stellt sie klar.
Erst mal aber fokussiert sie sich weiter auf die aktuellen Herausforderungen. Die Berlinger Group spielt eine wichtige Rolle in der globalen Pandemie-Bewältigung. Verspürt die Unternehmerin da eher Druck oder Stolz? «Ich spüre vor allem eine gewisse Verpflichtung», sagt Andrea Berlinger. «Wir tragen Mitverantwortung, dass die Welt so schnell wie möglich zurück zur Normalität kehren kann.» Diese Verantwortung wollen Berlinger und ihr Toggenburger Unternehmen wahrnehmen.