Darum gehts
Er gilt als Strahlemann. Gut aussehend, charmant, charismatisch. Der aus Indien stammende Zahnmediziner Murali Srinivasan beeindruckt nicht nur mit seinem Auftreten, sondern auch mit seinem Lebenslauf.
Für seine Forschung zu Zahnprothesen für ältere Menschen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Nun steht der Klinikdirektor des Zentrums für Zahnmedizin der Universität Zürich kurz vor dem Höhepunkt seiner Karriere: der Beförderung vom befristet angestellten Assistenzprofessor zum ordentlichen Professor mit unbefristetem Arbeitsvertrag.
Doch Dokumente, Fotos und Chats, die dem Beobachter vorliegen, zeichnen ein anderes Bild von dem Forscher. Seit 2021 erheben Mitarbeitende Vorwürfe gegen ihn.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Der Beobachter konnte mit rund einem halben Dutzend aktuellen und ehemaligen Mitarbeitenden aller Hierarchiestufen sprechen. Trotz Angst um Karriere und Ruf erzählten sie unter Zusicherung der Vertraulichkeit von Missständen an der Klinik für Allgemein-, Behinderten- und Seniorenzahnmedizin der Universität Zürich. Dort, wo Menschen, die wenig Geld haben, ihre Zähne behandeln lassen.
Die Universität weiss seit mindestens vier Jahren von Vorwürfen gegen Srinivasan; vor rund einem Jahr gingen mehrere Beschwerdebriefe bis an den Rektor. Doch geschehen war lange wenig. Bis eine unerschrockene Professorin begann, unangenehme Fragen zu stellen. Eine Recherche in acht Kapiteln.
1. Von Dubai an die Zürcher Armenklinik
Es war 2019, als Murali Srinivasan von der Universität Genf nach Zürich kam. Zuvor hatte er in Dubai eine Zahnmedizinklinik geleitet. Nun übernahm er die Leitung jener Klinik des Zentrums für Zahnmedizin, die früher als Armenklinik bekannt war.
Die Zahnärztinnen und Zahnärzte helfen denen, die kein Geld für eine Behandlung haben – etwa älteren Menschen, Menschen mit Behinderung oder solchen, die am Rand der Gesellschaft leben. Zur Klinik gehört eine mobile Zahnarztpraxis, die in einem Lieferwagen durch den Kanton tourt. Dort werden Menschen behandelt, die nicht mehr aus dem Haus können.
Anders als in anderen Bereichen der Zahnmedizin geht es hier weniger ums Geldverdienen, sondern um sinnstiftende Arbeit und wissenschaftliches Interesse.
2. Vorwurf: Toxische Arbeitskultur
Unter Srinivasans Leitung soll sich die Kultur der Klinik jedoch drastisch verändert haben. Aus einer Einheit sollen Einzelkämpfer geworden sein. Aus gemeinsamer Identität eine Arbeitsatmosphäre aus Unzufriedenheit, Angst und Misstrauen. Das berichten mehrere aktuelle und ehemalige Mitarbeitende.
Langjährige Ärzte galten plötzlich als «illoyal» oder «Troublemaker». Srinivasans gewinnende Seite konnte unvermittelt ins Gegenteil kippen, erzählen sie. Er sei «erratisch, launisch und autoritär» geworden. Srinivasan soll Mitarbeitende vor versammelter Belegschaft angebrüllt haben: «You are a nobody – I am the big shot!»
Er schaffte den morgendlichen Rapport ab – schwierige Fälle wurden nicht mehr besprochen. Diese Form der Mitsprache halte er für unnötig, soll Srinivasan gesagt haben. Auch sonst habe der Klinikdirektor hiesige Gepflogenheiten ignoriert und kaum deutsch gesprochen.
3. System aus Belohnung und Bestrafung
Loyalen Ärzten erlaubte der Klinikdirektor Privilegien wie Homeoffice. Eine ihm besonders nahestehende Oberärztin sei während ihrer Arbeitszeit oft abwesend gewesen, trotz anderslautenden Kalendereinträgen. Es ist laut Mitarbeitenden vorgekommen, dass Patienten stundenlang warten mussten oder sogar nach Hause geschickt wurden.
Mitarbeitende sollen von Srinivasan plötzlich geghostet worden sein, manche wurden ohne Ankündigung auf Whatsapp blockiert oder zum Weinen gebracht.
Wer bei Srinivasan in Ungnade fiel, soll im akademischen Fortkommen behindert worden sein. Einige ehemalige Mitarbeitende erzählen, sie seien isoliert und so zu einem Weggang gedrängt worden. Das zeigen mehrere Beschwerdeschreiben an die vorgesetzten Stellen und den Rechtsdienst.
4. Problematischer Führungsstil
Einige Angestellte hatten Angst, dass ihr Vertrag nicht verlängert wird. Sie erzählen zudem, dass Srinivasan ihre Bitten um Zwischenzeugnisse ignoriert oder unvollständige Mitarbeitendenbeurteilungen zur Unterschrift vorgelegt habe. So habe er es ihnen schwergemacht, eine neue Stelle in der Forschung oder als Fachärzte zu finden.
Srinivasans problematischer Führungsstil zeigte sich auch während der Pandemie. Seine Klinik behandelt Hochrisikopatienten. Dennoch feierte er drei Tage nach der Erklärung der ausserordentlichen Lage durch den Bundesrat einen Apéro. Mit rund einem halben Dutzend Mitarbeitenden – im kleinsten Büro der Klinik. Er teilte ein Selfie davon in einer internen Whatsapp-Chatgruppe. Darauf hält er ein Weinglas in die Kamera, im Hintergrund stehen ebenfalls unmaskierte Mitarbeitende. Kommentar: «Keeping spirits up …!», «#socialdistancing».
5. Mögliche Patientengefährdung
Die Vorwürfe gegen Srinivasan reichen jedoch weit über den Führungsstil hinaus. Es geht auch um mutmassliche Gefährdung der Patientinnen und Patienten. Die Patientenakten wurden nicht digital, sondern von Hand auf Papier geführt. Es kam immer wieder vor, dass einzelne Akten nicht auffindbar waren. Laut Mitarbeitenden sollen Patienten deshalb teils ohne Kenntnisse der Krankengeschichte behandelt worden sein. Erst nachdem Beteiligte wegen der Missstände Alarm geschlagen hatten, digitalisierte das Zentrum für Zahnmedizin die Akten kürzlich.
Mit dem Handy aufgenommene Bilder zeigen zudem Dutzende Narkosemittel, Wurzelkanalfüllungen und Zahnkronenmaterial in der Abteilung. Einige Mittel sind teilweise seit Jahren abgelaufen. Dass jemand diese Mittel tatsächlich an Patientinnen verwendete, belegen die Fotos zwar nicht. Es gibt allerdings Aussagen, wonach auch abgelaufene Betäubungsampullen ins Zahnfleisch von Patienten gespritzt worden sein sollen.
Dazu kommt: Mehrere Räume der Klinik sind seit Jahren von Mäusen befallen. In internen Chats kursieren Fotos und Videos von den Tieren. Und in den Büros und Zwischenräumen stehen zahlreiche Fallen. Die Mäuse sollen auch immer wieder Sandwiches der Mitarbeitenden anknabbern oder sich an herumliegender Schokolade bedienen.
Unmittelbar dürfte wohl der Hausdienst dafür zuständig sein. Als Klinikdirektor steht Murali Srinivasan jedoch auch in der Verantwortung, dass die Räume der Klinik in akzeptablem Zustand sind.
6. Untersuchung der Uni Zürich wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens
Gegen Srinivasan läuft eine interne Untersuchung wegen möglichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Er soll Mitarbeitende im Rahmen einer Studie angewiesen haben, die Etiketten von Mundspülungen mit neuen Ablaufdaten zu überkleben. Weil sich der Start der Studie verzögerte, waren die Mundspülungen abgelaufen. Zudem soll eine Studie nicht dem üblichen Doppelblindstandard genügt haben.
Murali Srinivasan war in den letzten fünf Jahren an knapp 100 Studien beteiligt und zeigte sich gern an internationalen Kongressen im Ausland. Kaum Zeit hingegen verbrachte er im Vorlesungssaal. Dem Beobachter liegen Belege vor, wonach Srinivasan seit seinem Amtsantritt 2019 kaum je eine Vorlesung hielt. Dabei gibt es gemäss Auskunft der Universität für Assistenzprofessoren eine Lehrverpflichtung von zwei bis vier Semesterwochenstunden.
7. Vorwürfe zuerst ignoriert
Spätestens seit 2021 waren Probleme an der Klinik für Allgemein-, Behinderten- und Seniorenzahnmedizin der Universität Zürich bekannt. Nicht nur den unmittelbaren Vorgesetzten und dem Rechtsdienst, sondern auch der Universitätsleitung.
Srinivasan erhielt zudem ein Jahr später in der Mitarbeitendenbefragung in der Kategorie «Führung» in allen acht Punkten massiv ungenügende Bewertungen – als einziger Direktor der sechs Kliniken des Zentrums für Zahnmedizin. Doch das blieb ohne Konsequenzen.
Im Gegenteil. Die Universitätsleitung wählte Srinivasan im Januar 2023 – direkt nach den äusserst schlechten Resultaten der Mitarbeitendenbefragung – zum Vorsteher des gesamten Zentrums für Zahnmedizin.
8. Neue Direktorin stellt sich gegen Srinivasan
Srinivasan blieb nur sieben Monate Zentrumsvorsteher. Seit Sommer 2023 leitet eine der anderen Klinikdirektorinnen das Zentrum: Mutlu Özcan. Mitarbeitende beschreiben sie als fleissig. Sie lege Wert auf hohe moralische Standards, wolle Transparenz und wissenschaftliche Qualität stärken.
Im Frühling 2024 stellte sich die neue Zentrumsdirektorin gegen eine unbefristete Anstellung von Klinikdirektor Srinivasan. In einem Schreiben, das auch an den Rektor der Universität ging, verwies sie auf viele der erwähnten Vorwürfe, die bis heute nicht abschliessend untersucht sind, etwa: «Mehrere Beschwerden von Mitarbeitenden über unzureichende Führungsqualitäten.»
Die neue Zentrumsdirektorin kritisierte die hochkarätige Beförderungskommission der Medizinischen Fakultät unverblümt für ihr bisheriges Wegschauen im Beförderungsverfahren: «Das aktuelle Verfahren entspricht nicht den akademisch-wissenschaftlichen Standards», heisst es in dem Schreiben. Danach wurde die Umwandlung von Srinivasans befristeter Assistenzprofessur in eine ordentliche Professur sistiert. Was in der Wissenschaftswelt einem Affront gleichkommt.
Die Medienstelle der Universität Zürich teilt auf Anfrage des Beobachters mit, dass Ende April 2025 eine interne Untersuchung gegen Srinivasan eröffnet wurde – zusätzlich zu derjenigen wegen möglichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Wegen des laufenden Verfahrens könne man keine weiteren Angaben dazu machen.
Zum Vorwurf, Srinivasan habe kaum Vorlesungen gehalten, erklärt die Universität, ihr lägen dazu keine Informationen vor. Auch zur mutmasslichen Verletzung der Corona‑Vorschriften habe sie bislang keine Hinweise erhalten. Srinivasan selbst äussert sich nicht zu den Vorwürfen – trotz ausführlichem Fragenkatalog. Über die Medienstelle lässt er nur ausrichten, er weise sie «klar» zurück.