Foto: Thomas Meier

Südostbahn testet Autopilot-Fahrten – Blick war dabei
Ein Zug wie ein Flugzeug

Im Kanton Schwyz fahren Züge mit Autopilot. Als erstes europäisches Unternehmen setzt die Südostbahn das Assistenzsystem im Alltag ein. Blick war bei einer Fahrt im Führerstand dabei.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 07:26 Uhr
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Darum gehts

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Auf Gleis 2 steht der Zug nach Biberbrugg SZ im Bahnhof von Arth-Goldau SZ bereit. Abfahrt 9.54 Uhr. Es nieselt, der Nebel ist dicht an diesem Donnerstag. Wenige Fahrgäste steigen in die Komposition der Südostbahn (SOB) ein – und die meisten ahnen nicht, dass ihr Zug auf Abschnitten der 20 Kilometer langen Strecke im Kanton Schwyz ferngesteuert über die Schienen rollt.

Im Führerstand hat Lokführer Reto Klingenfuss (52) ein spezielles Computersystem zur Hand, das ihm als Fahrassistent dient. Auf die Sekunde genau um 9.54 Uhr setzt Klingenfuss den Zug in Bewegung, nachdem er das Abfahrtsignal doppelt konsultiert hat. Mit Hebeln und Knöpfen agiert der Lokführer und setzt nach einigen Hundert Metern das automatische Fahrassistenzsystem in Betrieb. Nun kann Klingenfuss die Hände auf die Knie legen.

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Lokführer Reto Klingenfuss kann jederzeit manuell ins Fahrassistenzsystem eingreifen.
Foto: Thomas Meier

Der Autopilot übernimmt

Der Zug hält an den Bahnhöfen selbständig, die Türöffnung und die Sicherheitseinrichtungen bedient danach Lokführer Klingenfuss. Er übergibt nach der Abfahrt, die manuell erfolgt, die Lenkung der 78 Meter langen Komposition wieder dem Fahrassistenzsystem. «Vergleichbar, wenn in einem Flugzeug der Autopilot übernimmt», erklärt Klingenfuss. Das Tempo diktiert ebenfalls der Computer – anhand der Streckendaten und des Fahrplans. Die Geschwindigkeit wird auf den Kilometer pro Stunde genau vorgegeben und angezeigt – 67 jetzt, eine Art Tempomat für den Zug. Von Hand, mit dem Hebel, wäre die Geschwindigkeit nicht derart präzise zu treffen.

Die Strecke ist in Abschnitte aufgeteilt. Sekundengenau nach Fahrplan-Vorgabe steuert das System, wann der Zug am nächsten Punkt sein soll. Jederzeit kann Lokführer Klingenfuss manuell übernehmen. Zum Beispiel, wenn ein Tier auf dem Gleis steht oder schwierige Schienenzustände die vorgegebene Geschwindigkeit nicht zulassen. «Das System macht den Lokomotivführer keineswegs überflüssig», betont Klingenfuss. Die Verantwortung liege ganz bei diesem. Das werde sich nicht ändern, auch in den nächsten Jahrzehnten werde noch ein Lokführer vorne im Führerstand sein.

Aufsicht beteiligt sich

Seit dem vergangenen Sommer läuft der Versuch mit dem Fahrassistenzsystem. Durchschnittlich drei Züge pro Tag fahren seither zwischen Arth-Goldau und Biberbrugg mit dem Autopiloten. Ursprünglich hätte die SOB schon einige Monate früher damit beginnen wollen, doch das Bundesamt für Verkehr (BAV) hatte nach ersten nächtlichen Testfahrten zusätzliche Sicherheitsnachweise für den Fahrplanverkehr verlangt. An den Kosten des Projekts ist das BAV beteiligt. Es hielt denn nach dem Zulassungsaufschub damals auch fest, es unterstütze die Digitalisierung im öffentlichen Verkehr grundsätzlich. Die Aufsichtsbehörde wollte aber von der SOB dargelegt haben, wie diese die Rolle und Verantwortung des Lokpersonals im Zusammenspiel mit der Technik definiere. Das Projekt mit dem Fahrassistenzsystem hatte die Südostbahn bereits 2017 mit einer Machbarkeitsstudie lanciert.

42 SOB-Lokführer sind auf dem neuen System ausgebildet, in zehn Zügen des Stadler-Typs «Flirt 3» ist die Technik eingebaut. Einige Kolleginnen und Kollegen seien kritisch und zweifelten am Nutzen, räumt Klingenfuss ein – er ist auch in der Lokpersonal-Leitung tätig. Befürchtungen gebe es etwa, dass die Arbeit im Führerstand monotoner werde und dem Lokführer die Führung für ein System übertrage, dessen Zuverlässigkeit er nicht in der Hand habe. Klingenfuss selbst sieht die Fahrassistenztechnologie als Unterstützung und Möglichkeit, sekundengenau zu fahren und den Zug auf den Meter präzise zum Stehen zu bringen.

Unsanfte Rucke

Die Strecke zwischen Arth-Goldau und Biberbrugg, auf der die Technik erprobt wird, sei wegen der Topografie sehr anspruchsvoll, sagt Roger Dällenbach (54), der das Projekt mit dem Assistenzsystem leitet. Steigung und Gefälle sind an regnerischen Herbsttagen wie diesem – und dann im Winter mit Schnee – eine Bewährungsprobe für die neue Technologie.

Beim Bremsen und Beschleunigen, an Gelände-Übergängen, gibt es denn auf der Fahrt auch ab und zu unsanfte Rucke. Das System habe noch einige Ecken und Kanten, sagt Dällenbach. «Für die Reisenden sind sie aber nicht wahrnehmbar», das liege im Bereich des Feinschliffs. «Es wollte noch nie jemand vorzeitig aussteigen.» Nach Ablauf des einjährigen Versuchsbetriebs werden die Daten ausgewertet, weiterführende Pläne – eine Fortsetzung des Projekts oder eine Ausweitung auf weitere Abschnitte – bestehen nach Angaben der SOB vorerst nicht. Die Bahn gibt sich vorsichtig, weil offene Strecken in freier Natur vorerst nicht mit automatischen Zügen zu betreiben sind – anders als längst selbstfahrende U-Bahnen.

Was etwa SBB, Postauto sowie Essenslieferanten mit Taxis ohne Personal oder Zustellrobotern testen und künftig planen, ist für die SOB demnach keine Vision.

Eine Sekunde verspätet

Warum dann dieser Aufwand für ein System, das weder Lokpersonal ersetzt noch in näherer Zukunft flächendeckend eingesetzt wird? «Es ist ein Schritt in die Zukunft», sagt Dällenbach dazu. Als erste Schweizer Bahn nutze die SOB die Fahrassistenztechnologie im kommerziellen Betrieb. Das Unternehmen erhofft sich davon eine Senkung des Energiebedarfs und höhere Pünktlichkeit. Laut Dällenbach lässt sich nach den ersten vier Monaten noch nicht sagen, ob weniger Strom verbraucht wird. Der Fahrplan werde präzise eingehalten.

Die digitale Uhr rückt Richtung 10.20 Uhr vor, der Zug nähert sich dem Bahnhof Biberbrugg und beginnt zu bremsen. Um 10.20 Uhr und eine Sekunde steht er still. Etwa zwei Meter über dem markierten Haltepunkt. Eine fast kitschige Vorführung. Klingenfuss und Dällenbach strahlen.

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