Es ist kein richtiger Triumph für Pierin Vincenz (67) – aber immerhin ein Etappensieg: Das Zürcher Obergericht hat das Urteil des Bezirksgerichts gegen Vincenz und seine Mitangeklagten aufgehoben. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zur neusten Entwicklung im Fall Vincenz.
Das Obergericht hat «schwerwiegende Verfahrensmängel» ausgemacht. Konkret sei die 364-seitige Anklageschrift zu umfassend, «teilweise ausschweifend», gewesen. Das habe den gesetzlichen Rahmen gesprengt. Ausserdem war einer der Angeklagten französischer Muttersprache – und hat keine vollständige Übersetzung der Anklageschrift erhalten.
Rechtsprofessor Peter V. Kunz (59) ist über die Aufhebung des Urteils nicht sonderlich überrascht und bestätigt gegenüber Blick: «Die Anklageschrift war grottenschlecht.» Überrascht sei er lediglich, dass das Obergericht fast zwei Jahre gebraucht habe, um diese Mängel zu erkennen.
Nein. Die Aufhebung des Urteils durch das Obergericht ist rein technischer Natur. «Der Rückweisungsbeschluss äussert sich nicht zur Frage von Schuld oder Unschuld», schreibt das Obergericht dazu. Es gilt weiterhin die Unschuldsvermutung.
Kritik einstecken muss nun vor allem der zuständige Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel (60). «Für ihn ist der Entscheid des Obergerichts eine Klatsche», stellt Kunz klar. Auch das Bezirksgericht muss mit Kritik rechnen: Es stellt sich die Frage, warum es die Anklageschrift nicht bereits zu Beginn an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen hat. «Ich vermute, das Bezirksgericht wollte so schnell wie möglich ein Urteil fällen, um zu verhindern, dass die Delikte verjähren», mutmasst Kunz.
Nein. Mit dem erstinstanzlichen Urteil des Bezirksgerichts wurde die Verjährung gestoppt. Das Obergericht stellt sich in seinem Entscheid auf den Standpunkt, dass sich daran auch durch die Rückweisung des Urteils nichts ändert. Trotzdem darf der Fall nicht über Jahre verschleppt werden, fordert Kunz. «Staatsanwaltschaft und Justiz lassen Vincenz und seine Mitangeklagten hängen. Sie haben Anspruch auf eine zügige Verurteilung – oder einen Freispruch.» Die Ungewissheit nagt an den Beschuldigten.
Der Ball liegt nun wieder bei der Staatsanwaltschaft. Sie muss bei der Anklageschrift nachbessern – und kann dann erneut Anklage am Bezirksgericht erheben. Theoretisch könnte sie den Fall auch fallenlassen. Das erscheint momentan aber wenig wahrscheinlich. Rechtsexperte Peter V. Kunz schätzt, dass es nochmal rund zwei Jahre dauert, bis ein neues Urteil des Bezirksgerichts vorliegt. «Danach geht es wohl erneut vor Obergericht und dann vors Bundesgericht, das dauert insgesamt locker sechs Jahre.» Vincenz wäre Mitte 70, bis er endgültig weiss, ob er ins Gefängnis muss oder nicht.
Ja. Denn Vincenz' Vermögen bleiben eingefroren. Die Zwangsversteigerung seines in die Jahre gekommenen Anwesens in Morcote TI steht im April an, es soll mehrere Millionen einbringen. Diese fliessen allerdings nicht an Vincenz, sondern an seine Gläubiger. Vincenz ist für die kommenden Jahre, bis das Verfahren endgültig abgeschlossen ist, finanziell blockiert. «Das ist belastend und rechtsstaatlich zweifelhaft», kritisiert Kunz.
Weder Pierin Vincenz noch sein Mitangeklagter Beat Stocker (63) haben sich bislang zu den neusten Entwicklungen im Fall geäussert. Klar ist aber: Für die Angeklagten ist die Aufhebung des Urteils ein Etappensieg. Ein Triumph ist sie hingegen nicht, da sie weiterhin jahrelang im Ungewissen bleiben. Aduno und Raiffeisen, die im Prozess als Privatklägerinnen auftraten, wollen sich auf Anfrage von Blick nicht äussern.