Ein Gigant wankt
Darum braucht Nestlé einen Kulturwandel

Der Nahrungsmittelriese vom Genfersee ist träge und fett geworden. Die Aktie sinkt und sinkt. Die neue Führung muss dringend für einen Innovationsschub sorgen.
Publiziert: 21:10 Uhr
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Der Erwartungsdruck ist gross, der auf CEO Philipp Navratil lastet.
Foto: William Gammuto

Darum gehts

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Beat SchmidFester Mitarbeiter Blick

Das geschwungene Verwaltungsgebäude ist in Stahl und Beton gegossene Stabilität und Innovationskraft. In den vergangenen Jahrzehnten stieg das Unternehmen aus Vevey zum grössten und wertvollsten Nahrungsmittelkonzern der Welt auf. Die Aktien legten in den vergangenen 30 Jahren um über 500 Prozent zu. Die Bewertung stieg auf über 280 Milliarden Franken. Während andere Konzerne in der Schweiz unter Druck kamen oder zusammenbrachen, strahlte Nestlé umso heller.

Nestlé ist Schweiz, und Schweiz ist Nestlé – das zeigt sich auch daran, dass trotz der weltumspannenden Geschäftsaktivitäten 51 Prozent des Kapitals von Schweizer Aktionären gehalten werden. Gerade bei institutionellen Anlegern wie Pensionskassen ist die Aktie sehr beliebt. Ohne es zu wissen, sind viele Schweizerinnen und Schweizer indirekt über ihre Pensionskasse Aktionäre von Nestlé. Doch seit nunmehr drei Jahren geht es abwärts: Die Aktien rutschten um 40 Prozent auf 72 Franken ab – ein Einbruch, der auf die Performance der Rentenvermögen drückt.

Mit dem Aktienkurs bröckelt auch das Vertrauen. Der imposante Bau am Genfersee ist zum Symbol für eine abgehobene Managerkaste geworden, die in ihrer eigenen Welt lebt und sich ihre eigenen Regeln setzt. Damit sind nicht nur die Affären des gestürzten CEO Laurent Freixe (63) gemeint und wie sie intern aufgearbeitet wurden, sondern auch die gestiegenen Managerentschädigungen und die lahmende Innovationskraft des Riesen. «Der Konzern ist dekadent geworden», sagt ein Portfoliomanager, der seit vielen Jahren die Entwicklung des Unternehmens verfolgt.

Der Hipster und die Tiefkühlpizza

Neue Umsatzbooster, wie das Nespresso einst war, sind nicht in Sicht. Das Geschäft mit den Kaffeekapseln zeigt Sättigungstendenzen. Das Wassergeschäft, ein weiterer strategischer Pfeiler, ist anfällig für Skandale und liefert nur noch magere Margen. Weite Teile des Produktportfolios scheinen aus der Zeit gefallen: Tiefkühlpizza, Suppenwürfel und Smarties stehen kaum mehr auf den Einkaufslisten der jüngeren Generationen, die sich Markenprodukte leisten wollen. Welcher urbane Hipster schiebt sich heute noch eine gefrorene Pizza in den Backofen?

Einzig das Geschäft mit Tierfutter scheint weiterhin gut zu laufen. Man kann es drastisch formulieren: Nestlé ist auf den Hund gekommen.

Hinzu kommen die Unwägbarkeiten einer zunehmend instabilen Weltlage – eskalierende Konflikte, Handelskriege, steigende Rohstoffpreise, Teuerungswellen, drohende Rezensionen und die enormen Zölle von Donald Trump (79). Dieses Amalgam drückt auf die Stimmungslage und damit auf die Aktienkurse von Unternehmen wie Nestlé. Diese Woche schickte der Markt ein schrilles Warnsignal aus: Die Aktien des Schweizer Verpackungskonzerns SIG brachen in zwei Tagen um horrende 31 Prozent ein. Es ist nicht unmöglich, dass auch die Aktien von Nestlé weiter an Boden verlieren werden.

Die Herausforderungen sind riesig und die Erwartungen immens, die auf dem neuen Konzernchef Philipp Navratil (49) und seinem Verwaltungsratspräsidenten Pablo Isla (61) lasten. Sie übernehmen die schwierige Aufgabe, den angeschlagenen Konzern in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Wohin die Reise gehen soll, haben sie noch nicht offengelegt. Am 16. Oktober werden sie ihre Zahlen für das dritte Quartal präsentieren. Dann werden die ersten Zeichen zu lesen sein.

Schnelle Lösungen wird es nicht geben. «Forward to the basics», lautete die Mission von Paul Bulcke (71) und Laurent Freixe vor einem Jahr. Sie ist krachend gescheitert. Denn nur mit mehr Marketing, mehr Produkte verkaufen zu wollen, funktioniert nicht mehr. Um langfristig erfolgreich zu sein, muss Nestlé auch wieder innovativer werden. Die neuen Chefs müssen mit der Bürokratie aufräumen und alte Privilegien abschneiden.

Alter Verwaltungsrat

Nestlé braucht einen Kulturwechsel. Die Veränderung muss von ganz oben kommen. Mit dem neuen Konzernchef und dem Sofortrücktritt des Langzeitlenkers Bulcke ist ein Anfang gemacht. Der neu eingesetzte Präsident wird das Board umbauen und verjüngen müssen. Dort sitzen zahlreiche in die Jahre gekommene Manager wie der frühere CS-Finanzchef Renato Fassbind (70) oder der ehemalige ETH-Präsident Patrick Aebischer (70). Das Board ist mit einem Durchschnittsalter von 64,2 Jahren eines der ältesten der Schweiz.

Die Risiken sind hoch. Philipp Navratil ist mit 49 Jahren noch recht unerfahren. Es wird sich erst zeigen, ob er das Zeug hat, einen Weltkonzern zu führen. Und mit Isla steht ein Manager an der Spitze von Nestlé, der aus dem Modegeschäft kommt (Zara, Massimo Dutti) und wenig über das Lebensmittelgeschäft weiss. Für die 280’000 Mitarbeiter und die Zehntausenden von Aktionären in der Schweiz heisst es jetzt: abwarten und Nestea trinken.

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