Darum gehts
Im Wartezimmer zart abgewetzte Stühle, in der Luft ein Hauch von Desinfektionsmittel, und der Arzt empfängt hinter einem Schreibtisch aus Edelholz: Mit dem Charme alter Hausarztpraxen haben heutige medizinische Versorgungszentren nichts mehr gemein. Mit ihren hellen und funktionellen Räumen gleichen sie profanen Dienstleistungsfirmen.
Und das sind viele von ihnen auch. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, haben private Investoren in den letzten Jahren zunehmend medizinische Einrichtungen aufgekauft. Was heute aussieht wie eine traditionelle, inhabergeführte Gemeinschaftspraxis, ist in Tat und Wahrheit oft ein gewöhnliches Unternehmen mit einem Produkt: medizinische Behandlungen. Und einem Hauptzweck: möglichst viel Gewinn.
40 Prozent der Radiologie-Praxen investorgeführt
Betroffen von dieser Entwicklung sind vor allem Fachrichtungen, die als lukrativ gelten: Urologie, Orthopädie oder Radiologie. Solide Daten, um das Ausmass der Investorentätigkeit zu beziffern, fehlen gemäss Ärzteverband FMH noch.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Die radiologische Fachgesellschaft schätzt, dass in ihrem Fachbereich mittlerweile 40 Prozent der Praxen von Investoren betrieben werden. Stark tangiert ist auch die Augenheilkunde: Mit Vista (37 Standorte in der ganzen Schweiz), Ono (15), Pallas (16), Sanoptis (15) und Gutblick (12) werben gleich fünf private Ketten um Patienten – die Pallas-Kliniken allerdings als familiengeführtes Unternehmen.
Bei vielen traditionellen Fachärztinnen und Fachärzten mit eigener Praxis kommt das nicht gut an. Mit vollem Namen will sich niemand äussern. Doch nach Zusicherung der Anonymität kritisiert gegenüber dem Beobachter eine ganze Reihe von ihnen das Gewinnstreben dieser Ketten und die fortlaufende Ökonomisierung. Alle nachfolgenden Aussagen wurden von den betreffenden Personen autorisiert.
So erinnert sich etwa eine Augenärztin mit universitärer Lehrbefugnis an ihre Zeit bei einer grossen Augenarztkette – und an einen Smalltalk mit dem damaligen Leiter. Beiläufig habe sich dieser darüber beklagt, dass er im Vorjahr nicht einmal eine Million Franken verdient habe. Die Augenärztin meint rückblickend: «Ich musste da Zwei-Minuten-Medizin machen und in den Sprechstunden möglichst viele Patientinnen und Patienten durchschleusen. Es war unwürdig. Gute Medizin, wie ich es mir vorstelle, konnte ich da nicht machen, deshalb bin ich gegangen.»
Mit dieser Aussage konfrontiert, schreibt die betreffende Augenarztkette: «Es gibt keine zeitlichen Vorgaben. Unsere Behandlungen dauern so lange, bis das bestmögliche Resultat erreicht ist.»
Ein Augenarzt mit eigener städtischer Praxis wiederum erzählt, er sei eines Tages von einem Headhunter kontaktiert worden, der ihm die Position eines Chefarztes bei einer der grossen Augenarztketten angeboten habe. «Aus reiner Neugier gab ich vor, interessiert zu sein, und fragte nach den Verdienstmöglichkeiten», so der Arzt. Der Headhunter habe geantwortet: eine halbe Million Franken plus Umsatzbeteiligung.
«Ich kenne die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen meiner eigenen Praxis und kann deshalb sagen: Mit sorgfältiger und guter Medizin sind solche Saläre nicht zu erwirtschaften.» Als Faustregel gelte, dass pro 100’000 Franken Einkommen jeweils das Dreifache, also 300’000, erwirtschaftet werden müssten.
Konfrontiert damit, antwortet ein Vertreter der Augenarztkette: «Wir geben keine Stellungnahmen zu unseren operativen Aktivitäten oder unseren Mitarbeitern ab.»
Fachgesellschaft will nicht zuständig sein
Die Augenheilkunde scheint besonders anfällig dafür zu sein, Patientinnen und Patienten Behandlungen zu empfehlen, die womöglich nicht nötig wären. Ein Arzt mit Einblick in diese Branche sagt: «Bei der Indikation, also der Frage, ob operiert werden soll oder nicht, gibt es oft Spielraum. Der ökonomische Druck kann dazu verleiten, eine Indikation weniger strikt zu stellen.»
Der Prämienticker schaut Lobbyisten und Profiteuren des Gesundheitswesens auf die Finger, deckt Missstände auf und sammelt Erfahrungen von Patienten, die unnötige Ausgaben vermeiden konnten.
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Von der Fachgesellschaft für Augenheilkunde wollte der Beobachter wissen, wie sie die Investorentätigkeit beurteilt. Doch diese erklärte sich für nicht zuständig: «Strukturelle Veränderungen im Gesundheitsmarkt, insbesondere Fragen zu Besitzverhältnissen oder Investorenstrukturen, fallen nicht in unseren direkten Zuständigkeitsbereich.» Dafür seien Behörden und Politik zuständig.
Anfragen werden «grundsätzlich nicht beantwortet»
Der Beobachter fragte bei den grossen Augenarztketten nach konkreten betriebswirtschaftlichen Kennzahlen. Wie hoch sind Umsatz und Gewinn? Gibt es Vorgaben, wie hoch diese ausfallen sollen? Gibt es Strafzahlungen, falls die Ziele verfehlt werden? Warum das interessiert, ist klar: Die Umsätze und Profite werden zu einem grossen Teil mit unseren Prämiengeldern erwirtschaftet.
Sanoptis bat um Verständnis. Solche Anfragen beantworte man «grundsätzlich nicht». Auch bei Vista gab man sich zugeknöpft. Die Medienstrategie erlaube es nicht, detaillierte Auskünfte zu Themen wie Geschäftstätigkeit, Kennzahlen und Strategie zu geben.
Ono schrieb, man habe sich der Aufgabe verschrieben, den Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung zu optimieren, indem man den Fortbestand lokaler medizinischer Einrichtungen gewährleiste. Pallas und Gutblick beantworteten die Mail gar nicht.
Europäische Investoren im Hintergrund
Die Namen der Investoren, die mit Geldern der Prämienzahlenden Profite machen, sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Die Augenarztkette Vista etwa ist ein Tochterunternehmen des europäischen Netzwerks Veonet mit Sitz in München. Veonet wurde 2021 vom kanadischen Pensionsfonds Ontario Teachers’ Pension Plan und dem französischen Private-Equity-Haus PAI Partners übernommen.
Uroviva, eine auf Urologie spezialisierte Kette mit zwölf Standorten in der Deutschschweiz, gehört Affidea, einem grossen europäischen Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen. Affidea selbst ist mehrheitlich im Eigentum der Investment-Holdinggesellschaft Groupe Bruxelles Lambert. Unilabs mit 50 Radiologiezentren in der Schweiz gehört der dänischen A. P. Moller Holding.
Deutschland will vorwärtsmachen
In Deutschland ist die Debatte schon länger im Gang. Der ehemalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte Ende 2022 an, er wolle den Kauf von Arztpraxen durch Finanzinvestoren verbieten. Er habe einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der «den Einstieg dieser Heuschrecken in Arztpraxen unterbindet», wie er der «Bild» sagte. Die aktuelle Bundesregierung wolle das Thema aufgreifen, teilt ein Sprecher mit.
In der Schweiz steht die Debatte erst am Anfang. Im April hat das Bundesamt für Gesundheit eine Studie dazu in Auftrag gegeben. Untersucht werden soll, wem genau die investorgeführten Einrichtungen gehören, wie sie organisiert sind und wie sich ihre Aktivitäten auf die ambulante Versorgung auswirken. Die Ergebnisse sollen im Sommer 2026 vorliegen.
Geteilte Meinung bei Parteien
Bei den politischen Parteien sind die Meinungen geteilt. SVP-Nationalrat Thomas de Courten begrüsst die Entwicklung. «Die privaten Praxen bieten den Ärztinnen und Ärzten zeitgemässe Bedingungen mit flexiblen Arbeitszeiten und sichern so die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Abrechnungswesen und IT sind zentralisiert. Das bringt Effizienzgewinne, und die Ärzte können sich auf ihre Kerntätigkeit fokussieren.»
Ganz anders klingt es bei der SP. «Wir stehen den Aktivitäten der privaten Investoren sehr kritisch gegenüber», stellt SP-Nationalrätin Barbara Gysi klar. Es könne nicht das Ziel sein, dass man auf Kosten der Prämienzahlenden Kasse macht. «Gewinnstreben hat im Gesundheitswesen keinen Platz», so Gysi.
Kritische Ablehnung auch von den Grünen: «Investoren gehen nur dahin, wo sie grossen Gewinn wittern. Doch das Gesundheitswesen darf nicht der Logik des Shareholder-Value unterworfen sein. Es muss einen bezahlbaren Zugang für alle zu allen nötigen Behandlungen bieten», stellt Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt klar.
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