Die «Ever Given» blockiert noch immer den Suezkanal. Der 400 Meter lange Frachter hat sich in der wichtigen Wasserstrasse zwischen Mittelmeer und Rotem Meer verkantet. Wie lange die Sperrung noch dauert, ist unklar. Bagger und Schlepper versuchen seit Tagen, das Containerschiff zu bewegen. Bisher ohne Erfolg.
Zwar beteuert Ägyptens Regierung laufend, die Blockade werde bald behoben sein. Doch das ist mit Vorsicht zu geniessen. Leon Zacharias (25), gelernter Schiffskaufmann und Logistikexperte an der Universität St. Gallen (HSG): «Die lokalen Hafenbehörden haben grosses Interesse daran, dass die Reedereien weiterhin an eine schnelle Freigabe des Kanals glauben. Schliesslich wollen sie um jeden Preis verhindern, dass sie sich dazu entschliessen, den 6000 Kilometer langen Umweg um Afrika herum zu nehmen.»
Jeder Frachter, der den Suezkanal passiert, bringt Ägypten rund 250'000 Franken Gebühren ein. Allein bis Freitagabend stauten sich mehr als 200 Schiffe auf beiden Seiten des Kanals.
USA bietet Hilfe an
Mittlerweile hat sich sogar US-Präsident Joe Biden (78) eingeschaltet. Er bot an, dass sich die USA an der Rettung der «Ever Given» beteiligen. Unabhängige Experten schliessen jedoch nicht aus, dass sich die Bergung noch über Tage oder gar Wochen hinziehen könnte. Unter Umständen muss das Schiff gar entladen werden, um das Gewicht zu verringern – eine Herkulesaufgabe.
Es gibt allerdings einen Faktor, der die Befreiung der «Ever Given» leichter machen könnte: der Mond. Der Himmelskörper bewirkt bekanntlich Ebbe und Flut – und könnte so zum Retter in der Not werden. Zacharias: «Durch die Gezeiten wird der Wasserstand im Suezkanal am Montag um rund 30 Zentimeter ansteigen. Die Gezeiten könnten also helfen, das Frachtschiff freizukriegen.»
Pech oder menschliches Versagen?
Ungewissheiten und Fragezeichen bleiben – auch was die Unfallursache betrifft. Klar ist: Die Tatsache, dass die «Ever Given» eines der grössten Frachtschiffe der Welt ist, hat das Unglück zumindest begünstigt. «Noch vor zehn Jahren rechnete niemand damit, dass dereinst so grosse Containerschiffe unterwegs sein werden», sagt Zacharias. Die «Ever Given» lief 2018 vom Stapel und kann 20'000 Container transportieren. Noch vor wenigen Jahren hatten die grössten Frachtschiffe eine Kapazität von 8000 bis 10'000 Containern. «Der Suezkanal wurde 2015 zwar erweitert, für ein Schiff wie die ‹Ever Given› gibts bei der Durchquerung aber dennoch sehr wenig Spielraum.» Wie es heisst, wurde der Tanker von starken Winden und einem Sandsturm in Schieflage gebracht.
Zum jetzigen Zeitpunkt kann auch menschliches Versagen nicht ausgeschlossen werden. Anlass für Spekulationen gibt ein aussergewöhnliches Manöver des Schiffs wenige Stunden vor dem Unglück: Beim Warten auf das Einlaufsignal im Roten Meer steuerten der Kapitän und seine Crew einen Kurs, dessen Spur einem riesigen Penis gleicht. Das zeigen Aufzeichnungen von elektronischen Trackern, die sämtliche Schiffsbewegungen verfolgen.
Zufall? Oder Hinweis darauf, dass die Gewissenhaftigkeit an Bord bereits vor der Havarie zu wünschen übrig liess?
Schiffscrews im Corona-Stress
Experte Zacharias will nicht spekulieren. Es sei aber ein offenes Geheimnis, dass die Stimmung auf vielen Frachtschiffen zurzeit extrem angespannt sei. «Aufgrund der Corona-Massnahmen können die Mannschaften nicht wie gewohnt ausgetauscht werden. Einige Crewmitglieder sind deshalb seit mehr als einem Jahr auf dem gleichen Schiff. Das zerrt an den Nerven.»
Gleichzeitig operieren die Schiffsreedereien an ihrer Kapazitätsgrenze. «Weil deutlich weniger geflogen wird, fallen die Warentransporte im Bauch von Passagierflugzeugen weg – und verlagern sich auf die Schiffe», sagt Wolfgang Stölzle (58), Direktor des Instituts für Supply Chain Management an der HSG und ehrenamtlicher Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Logistics Advisory Experts.
Gewaltige Folgenkosten
Hinzu komme, dass die Wirtschaft in China wieder brumme und europäische Firmen in Erwartung der wirtschaftlichen Erholung ihre Lagerbestände auffüllten. «Die Kosten pro Schiffscontainer haben sich deshalb seit vergangenem November von 2000 auf 9000 Dollar erhöht.»
Die Blockade des Suezkanals kompliziert die Lage zusätzlich. Der Umweg um Afrika herum kostet die Schiffe rund zwei Wochen und verringert die Transportkapazitäten. «Teuer wird es insbesondere für europäische Industriebetriebe, die auf wichtige Vorleistungsgüter aus Asien warten. Sie müssen im schlimmsten Fall die Produktion herunterfahren.»
Davon sei selbstverständlich auch die Schweiz betroffen, so Stölzle: «Eine neue Studie zeigt, dass 94 Prozent der Schweizer Importe aus Asien und Amerika per Schiff zu uns kommen.»
Die Folgekosten der Suezkanal-Blockade seien deshalb gewaltig – und würden mit jedem Tag grösser, den die «Ever Given» stecken bleibt.