Herr Sulser, ich habe einen renommierten Spielerberater gefragt, was der junge Stürmer Claudio Sulser heute für einen Marktwert hätte. Was schätzen Sie?
Claudio Sulser: Keine Ahnung, sagen Sie es mir.
40 bis 50 Millionen Franken!
Das ist aber sehr viel Geld. Ich wusste gar nicht, dass ich damals so gut war … (lacht)
Wie wurde aus Ihnen überhaupt ein Fussballer?
Meine Deutschschweizer Eltern kamen 1948 ins Tessin nach Mendrisio. Als ich sechs Jahre alt war, zogen sie innerhalb der Gemeinde um, in eine Mietwohnung, die direkt neben dem Fussballplatz lag. Obwohl auf dem Feld nur die 1. Mannschaft spielen und trainieren durfte, wurde das unser Spielplatz. Wenn der Abwart kam und mit uns schimpfte, rannten wir einfach davon. Und wenn er weg war, kehrten wir wieder zurück.
Hatten Sie als Kind ein Fussball-Idol?
Ich war Fan von Inter Mailand. Vom Team, das 1964 den Europacup der Meister gewann, kann ich noch heute alle Spieler aufzählen. Mein Held damals war vor allem Mario Corso mit der Nummer 11. Ausserdem mochte ich den Sänger Little Tony. Ich schrieb ihm sogar mal und bat ihn um ein Autogramm. Als ich daraufhin eine Antwort erhielt, war ich mächtig stolz darauf.
Wie war der Schüler Sulser?
Formulieren wir es mal so: Ich war nicht gerade der Ruhigste, habe gelegentlich opponiert und so die Lehrer genervt. Auch im FC war es ähnlich. Als ich bei den Mendrisio-Junioren zweimal hintereinander auf der Ersatzbank Platz nehmen musste, erklärte ich dem Trainer: «Ich trete aus und suche mir einen anderen Klub.» Doch dieses Problem löste sich danach von alleine.
Wie?
Da meine Eltern das Gefühl hatten, ich sei zu vif und bräuchte ein bisschen mehr Aufsicht, schickten sie mich ins Kollegium Schwyz. Dort erwartete mich eine völlig andere Welt. Ich musste zum Beispiel jeden Mittwochnachmittag als Strafe zwei Stunden zur Haggenegg hochlaufen, auch wenn ich nichts angestellt hatte. Damals hiess es einfach: «Du hast sicher etwas Verbotenes gemacht. Ab zur Haggenegg.» Auch die eine oder andere Ohrfeige des Lehrers war damals noch normal. Zu Hause hat man dann natürlich nichts davon erzählt, sonst hätte es dort auch gleich nochmals eine gegeben. Oder wenn man während des Essens geredet hat, musstest du danach stehend weiteressen, was bei mir schon hie und da vorkam. Trotzdem möchte ich diese Zeit nicht missen. Das war eine wichtige Etappe in meinem Leben, da ich dadurch disziplinierter und fokussierter wurde.
1973 wechselten Sie zu Vevey in die Nati B. Zwei Jahre später rief Sie der legendäre Basel-Trainer Helmut Benthaus an.
Ich war damals nach dem Aufstieg mit Vevey direkt wieder aus der Nati A abgestiegen. Doch weil ich noch die Matura machte, sagte ich Benthaus ab. Er liess aber nicht locker und meldete sich ein Jahr später wieder bei mir. Da sagte ich wieder Nein, da ich noch die RS absolvieren musste. Ich weiss bis heute nicht genau, warum ich ihm abgesagt habe, denn der FCB war damals der Spitzenklub der Schweiz.
Als später GC anklopfte, sagten Sie aber Ja.
Dahinter verbirgt sich eine verrückte Geschichte, die heute unvorstellbar wäre. GC-Trainer Helmuth Johannsen und Coach Fritz Jucker schauten sich damals in Grenchen einen Spieler an. Da sagte ihnen ein Zuschauer: «Wenn ihr einen Spieler sucht, dann müsst ihr nach Vevey gehen. Der Sulser, das wäre noch einer für euch.»
Mit GC wurden Sie schliesslich viermal Meister und einmal Cupsieger. Trotzdem rumorte es in der Mannschaft.
Nach etwa einem Jahr merkte ich: Fussballspielen alleine reichte mir nicht. Ich brauchte einen Ausgleich und fing deshalb mit meinem Jus-Studium an. Und während die anderen oft in den Ausgang gingen und das Leben genossen, besuchte ich lieber ein Sinfoniekonzert oder schaute mir bei Europacup-Auswärtsspielen Sehenswürdigkeiten an. Dies führte zu Irritationen.
Wie sahen diese aus?
Die Profis um Roger Wehrli, Andy Egli und Co. verstanden nicht, dass unser Goalie Roger Berbig, der Medizin studierte, und ich wegen unserer Ausbildung das eine oder andere Training verpassten. Vor allem, wenn die Resultate ausblieben, wurden wir deswegen kritisiert. Irgendwann sagte ich denen: «Ich kritisiere euch auch nicht, wenn ihr jassen geht.» Deswegen kam es eines Tages zu einer grossen Aussprache.
Wo fand diese statt?
In einem Hotelzimmer im Fernen Osten. Nach der Vorrunde lagen wir mehrere Punkte hinter Leader Servette. Damals hatten wir uns untereinander nicht mal mehr gegrüsst, und im Training musste man Schienbeinschoner anziehen, weil es so hart zur Sache ging. Als wir dann ins Trainingslager reisten, kam es zur Aussprache. Wir einigten uns darauf, dass wir keine Freunde sein müssen, aber dass wir alle voneinander abhängig sind. Das war die Wende, Ende der Saison wurden wir doch noch Meister.
Wie fanden Ihre Trainer, dass Sie noch studierten?
Hennes Weisweiler fand das gar nicht toll, obwohl wir uns eigentlich mochten. Eines Tages wollte er mit mir reden. Er erklärte mir: «Sie könnten einer der besten Stürmer Europas sein, doch Sie studieren. Und seitdem Sie nach Ihrer Verletzung zurückgekehrt sind, läuft das Spiel nicht mehr.»
Was antworteten Sie ihm?
«Wenn ich so wie Sie argumentieren würde, müsste ich noch Folgendes sagen: Seitdem Sie hier Trainer sind, gewinnen wir auswärts kein Spiel mehr.»
Trotz der Querelen feierten Sie mit GC auch international Erfolge. Legendär war vor allem der Sieg im Europacup der Meister gegen das grosse Real Madrid 1978.
Das war natürlich ein unvergesslicher Abend. Auch dank meinen zwei Toren kamen wir eine Runde weiter. Am Tag danach war ich übrigens wieder im Hardturm. Der ganze Rasen war voller Vögel, die die Würmer frassen. Als ich klatschte, flogen sie alle davon. Das war für mich ein Zeichen, wie vergänglich der Erfolg sein kann.
Ich möchte mit Ihnen auch noch über den Uefa-Cup-Halbfinal 1978 gegen Bastia reden. Der Legende nach sollen Sie damals einen Schuh in Richtung Ihres Trainers Johannsen geworfen haben.
Wer behauptet das? Den klage ich ein (lacht). Passiert war Folgendes: Nach dem Out auf Korsika wurde der Trainer in der Kabine laut. Er sagte: «Mit einem Träumer und einem Angsthasen kann man nicht gewinnen.» Mit dem Träumer meinte er mich und mit dem Angsthasen Ruedi «Turbo» Elsener. Danach soll ein Schuh in seine Richtung geflogen sein, das stimmt. Ich war das aber definitiv nicht, da ich mich zu diesem Zeitpunkt schon in einem Nebenraum befand.
Für die Nationalmannschaft bestritten Sie 50 Länderspiele und schossen Tore gegen England und Brasilien.
Trotzdem bin ich ein frustrierter Ex-Nationalspieler, der nie etwas erreicht hat. Wir schlugen zwar gelegentlich die stärksten Mannschaften der Welt, konnten uns aber nie für eine Endrunde qualifizieren. Das war zwar damals viel schwieriger als heute, weil sich viel weniger Mannschaften für eine EM oder WM qualifizieren konnten, trotzdem bin ich deswegen zumindest auch heute noch ein bisschen enttäuscht.
Sie hatten damals auch regelmässig Angebote von ausländischen Klubs. Bereuen Sie es, dass Sie immer abgesagt haben?
Dass ich nie zu 100 Prozent auf den Fussball gesetzt habe, gehört zu meiner Persönlichkeit und meinem Lebenslauf. Als Inter Mailand, der Klub meiner Kindheit, sich für mich interessierte, war das schon toll. Doch irgendwie passte es zeitlich nie.
Damals waren Sie als Stürmer Freiwild. Was mussten Sie alles über sich ergehen lassen?
Vieles. Wenn du damals mit dem Rücken zum Tor den Ball erhalten hast, wusstest du, dass du nun von hinten gleich umgesäbelt und die «Töggeli» zu spüren bekommen wirst. Das war damals halt normal.
Wie wehrten Sie sich?
Ich kann mich noch an ein Trainingsspiel gegen den FC Winterthur erinnern. Als mich mein Gegenspieler Daniel Häfeli mit beiden Händen umklammerte, traf ich ihn beim Versuch, mich zu lösen, voll am Kopf. Er ging runter und war einige Sekunden lang bewusstlos. Danach wollte Winterthur sogar eine Strafanzeige gegen mich einreichen.
Sie selbst flogen während Ihrer ganzen Karriere nur einmal vom Platz. Wie kam es dazu?
Wo haben Sie das denn ausgegraben? Ich habe früher immer gesagt, dass ich nie vom Platz fliegen werde. Doch dann kam dieses Sommer-Turnier bei Atletico Madrid. Im Final trafen wir auf den VfB Stuttgart mit Karlheinz Förster. Innerhalb von zehn Minuten foulte er mich dreimal. Beim letzten Mal spuckte er mich sogar noch an. Da wurde ich so «granatenverruckt», dass ich zurückspuckte. Da der Schiedsrichter nur das sah, zeigte er mir die Rote Karte.
Wenn Sie heute auf Ihre Karriere und Ihre vielen Verletzungen zurückblicken: War es das alles wert?
Ja, ich habe heute zwar zwei Knie-Prothesen und zwei künstliche Hüftgelenke, doch ich hatte im Fussball eine gute Zeit und konnte von den Fortschritten der Medizin profitieren. Hätte ich 20 Jahre früher Fussball gespielt, sässe ich heute wahrscheinlich im Rollstuhl.
Nach Ihrer Aktivkarriere waren Sie unter anderem Chef der Fifa-Ethikkommission. In jener Zeit wurden auch die Weltmeisterschaften nach Russland und Katar vergeben.
Meine Fifa-Jahre waren trotz all der Schwierigkeiten eine gute und lehrreiche Erfahrung.
Konnten Sie etwas bewirken?
Naja, realistisch betrachtet nicht allzu viel, aber ich gab mein Bestes. Ich hatte bildlich gesprochen zwar eine Pistole, aber keine Munition.
Hat mal jemand versucht, Sie zu bestechen?
Während meiner Fifa-Zeit nicht, als Spieler aber wollte man mich einmal bestechen.
Erzählen Sie.
Das war in der Nati B mit Vevey. Unser Gegner spielte damals gegen den Abstieg. Während der üblichen Inspektion des Spielfelds vor dem Spiel kam ein gegnerischer Spieler auf mich zu und fragte mich, ob wir einverstanden wären, das Spiel absichtlich zu verlieren. Ich ging verärgert weg, ohne ein Wort zu sagen. Wir siegten schliesslich 2:0, und ich schoss beide Tore. Die Antwort habe ich auf dem Feld gegeben.
Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Ich arbeite immer noch als Anwalt, möchte ab dem nächsten Jahr aber ein bisschen kürzertreten.
Sie werden im Oktober 70. Haben Sie Angst vor dieser Zahl?
Gestern Abend habe ich mit Roger Berbig genau darüber geredet, denn er wurde im letzten Jahr 70. Nein, ich habe keine Angst vor dieser Zahl und möchte noch einiges in meinem Leben erleben. Doch dass schnell alles vorbei sein kann, erfuhr ich erst kürzlich.
Was meinen Sie?
Im März verstarb meine sieben Jahre ältere Schwester. Sie war fit und gesund, doch dann erlitt sie aus dem Nichts eine Hirnblutung. Wenn du von jemandem, den du liebst, nicht mehr Abschied nehmen kannst, weil alles so schnell geht, ist das schon brutal. Und es zeigt, wie schnell alles vorbei sein kann.