Viktor Röthlin errät seine bedeutendsten Marathon-Zeiten
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Von 1999 bis 2014:Viktor Röthlin errät seine bedeutendsten Marathon-Zeiten

Marathon-Legende Viktor Röthlin über lebensbedrohliche Erkrankung
«Als der Pfarrer ins Zimmer kam, war mir klar, was vor sich geht»

Viktor Röthlin hat schon viel erlebt. Sehr viel. Hier erzählt er, wie er 2009 plötzlich um sein Leben kämpfen musste. Warum ihn Doping-Diskussionen genervt haben. Und warum er nach diesem Gespräch seinen Handy-Code ändern muss.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Aktualisiert: vor 16 Minuten
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Im Interview blickt Röthlin auf seine bewegende Karriere zurück.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Daniel LeuStv. Sportchef

Herr Röthlin, der Legende nach sollen Sie als Zehnjähriger auf dem Pausenplatz der Primarschule Kerns gesagt haben: «Wenn ich gross bin, werde ich mal an Olympischen Spielen teilnehmen.»
Viktor Röthlin: Das war damals wirklich so.

Und wie reagierten Ihre Schulkollegen darauf?
Sie lachten mich aus. Doch als ich damals gesehen hatte, wie Markus Ryffel in Los Angeles 1984 über die 5000 Meter Olympia-Silber gewonnen hatte, wusste ich: Ich will auch Läufer werden.

Wie fanden das Ihre Eltern?
Nicht so toll. Ich bin in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Eltern sagten mir immer: «Geh in die Schule und vergeude deine Zeit nicht mit Sport.» Deshalb durfte ich auch nie in den FC und meinen Jugendidolen Andy Egli und Roger Berbig nacheifern. Doch irgendwann kam zum Glück mein zwölf Jahre jüngerer Bruder Toni zur Welt.

Wie meinen Sie das?
Als Toni da war, lag der Fokus auf ihm, und ich verschwand ein bisschen vom Radar. Irgendwann machte ich mit meinen Eltern einen Deal: Solange meine Schulnoten gut waren, durfte ich in den Leichtathletik-Klub.

Wie sehr hat es Sie geprägt, dass Ihre Eltern kaum Geld hatten?
Auf eine gute Art und Weise. Ich hatte eine enorm schöne Kindheit und habe gelernt, für das zu kämpfen, was mir wichtig ist. Das half mir später auch im Sport. Dass wir zum Beispiel als Kinder nie geflogen sind und meistens Ferien auf der Alp gemacht haben, hat mich nie gestört.

Persönlich

Viktor Röthlin (50) ist der erfolgreichste Marathonläufer, den die Schweiz je hatte. An Europameisterschaften gewann er drei, an Weltmeisterschaften eine Medaille. 2014 trat er zurück. Heute ist der zweifache Familienvater Hausmann, arbeitet zu 50 Prozent für Ochsner Sport, ist Trainer von Matthias Kyburz und hält Referate. Er lebt mit seiner Familie in Ennetmoos NW.

Viktor Röthlin (50) ist der erfolgreichste Marathonläufer, den die Schweiz je hatte. An Europameisterschaften gewann er drei, an Weltmeisterschaften eine Medaille. 2014 trat er zurück. Heute ist der zweifache Familienvater Hausmann, arbeitet zu 50 Prozent für Ochsner Sport, ist Trainer von Matthias Kyburz und hält Referate. Er lebt mit seiner Familie in Ennetmoos NW.

Ihren ersten Flug hatten Sie dann als 18-Jähriger an die Junioren-WM in Boston.
Ich war damals völlig überfordert und vermisste in den USA vor allem die Berge. Das ging so weit, dass ich sogar Schwindelanfälle bekam, weil ich nirgends den Horizont sah und mich dadurch verloren fühlte.

Welchen Berufswunsch hatten Sie damals?
Ich wollte eigentlich Landschaftsgärtner werden und hatte schon die Zusage für eine Lehre, doch dann sagte mir mein damaliger Jugendtrainer Robi Haas: «Damit wirst du zwar Geld verdienen, aber wenn du das machst, kannst du deinen Traum von Olympia vergessen, weil du keine Energie mehr für den Spitzensport hättest.» Deshalb entschied ich mich dann für eine Lehre als Elektrozeichner, weil man da meistens im Büro sass.

In jener Zeit arbeiteten Sie auch auf dem Bau, um sich Laufschuhe leisten zu können.
Damals lagen vor einem Sportgeschäft in einem Körbli runtergesetzte Asics-Schuhe. Also kaufte ich mir diese, wurde damit Cross-Schweizer-Meister und qualifizierte mich dadurch für die WM. Doch dann kam der Verband auf mich zu und erklärte mir, dass Asics kein Verbandssponsor sei und ich mit diesen Schuhen nicht an der WM antreten dürfe. Das war schon bitter, weil die Ausgaben für die Schuhe für mich ja ein kleines Vermögen war. Doch zum Glück unterstützte mich der Verband und rüstete mich via ihren Ausrüstungspartner aus.

Apropos Geldverdienen. Hatten Sie nicht mal einen sehr speziellen Job?
Ja, das stimmt, das war später während meiner Ausbildung zum Physiotherapeuten in Bern. Ich fragte mich damals: Wo kann ich neben meiner Ausbildung und meinem Sport in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld verdienen? Die Antwort darauf war Leichenwaschen, denn dieser Job war sehr gut bezahlt und nicht begehrt, doch mir machte das nichts aus.

Und wie wars?
Sehr ruhig (lacht).

Schon 1994 hätte aber Ihre Karriere bereits wieder vorbei sein können.
Ich brach mir damals in der RS den Mittelfuss, und es war eine Zeit lang nicht klar, wie das alles verheilen würde. Es hätte durchaus sein können, dass mein Traum dort schon geendet hätte.

Ihre erste grosse Meisterschaft bestritten Sie 1998 an der EM in Budapest. Mit mässigem Erfolg.
Ich wurde damals über die 10’000 Meter Letzter, und mein Traum von Olympia 2000 schien weit weg zu sein. Doch dann kamen die Verantwortlichen von Swiss Athletics auf mich zu und sagten mir: «Wir sehen dein Potenzial nicht über die 5000 oder 10’000 Meter, sondern im Marathon. Wenn du jetzt nicht wechselst, wirst du nicht weiter gefördert.» Da meine Familie wie vorhin gesagt nicht im Geld schwamm, hatte ich gar keine andere Wahl, als auf ihren Vorschlag einzugehen.

Sie schafften es dann 2000 und 2004 tatsächlich als Marathonläufer an die Olympischen Spiele. Doch vor allem 2004 in Athen war für Sie ein Tiefpunkt.
Ich hatte damals Probleme mit meinem Becken und wusste schon am Start, dass es nicht gut kommt. Trotzdem ging ich mit dem Kopf durch die Wand, zumindest bis Kilometer 32. Dann ging nichts mehr, ich gab auf und erreichte das Stadion nicht zu Fuss, sondern mit dem Auto. Danach rutschte ich in eine Lebenskrise und fühlte eine grosse Unsicherheit, ob ich als Sportler noch eine Zukunft habe.

Doch dann kam es doch noch gut. Stichwort WM in Osaka 2007.
In der Nacht davor schrieb ich auf einen Zettel, dass ich Bronze gewinnen würde, was dann auch tatsächlich eingetroffen ist. Ich habe in jener Zeit eine eigene Mentalität entwickelt, indem ich verinnerlicht habe, dass was Grosses möglich ist. Ich war immer davon überzeugt: Wenn du glaubst, etwas Grosses schaffen zu können, dass du das auch schaffen kannst. Denn ich hatte nie Angst vor dem Scheitern, aber immer Angst davor, nicht das Bestmögliche aus meinem Talent rauszuholen. Deshalb ist mein Handy-Code bis heute auch immer 0206 und nicht 0207.

Das müssen Sie jetzt erklären.
Meine Marathon-Bestzeit liegt bei 2:07, ich traute mir aber immer die 2:06 zu, deshalb war und ist mein Handy-Code 0206. Bis jetzt, nun muss ich ihn wahrscheinlich ändern (lacht).

Speziell soll auch Ihre Vorbereitung auf Peking 2008 gewesen sein.
Ich trainierte damals auf einem Veloweg, der entlang der stark befahrenen Brenner-Autobahn führte, damit ich die verschmutzte Luft von Peking simulieren konnte. Diese Abgase einzuatmen, war sicherlich nicht gesund und ein bisschen verrückt, aber mein Plan ging auf. Zumindest für mich, für euch Medienschaffende aber nicht. Damals hiess es: Schade, keine Medaille, Platz 6. Für mich war das aber das beste Rennen meiner Karriere. Um mich herum waren nur Afrikaner klassiert.

Danach ging es aber nicht weiter aufwärts für Sie. Stattdessen kämpften Sie 2009 plötzlich um Ihr Leben.
Ich hatte damals zweimal eine Lungenembolie und wäre beinahe gestorben, weil man zuerst nicht rausfand, was ich hatte. Beim zweiten Mal lag ich zu Hause im Bett. Bevor meine Frau arbeiten ging, legte sie mir das Telefon nebens Bett. Das hat mir das Leben gerettet, denn plötzlich ging es mir so schlecht, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. Doch zum Glück konnte ich gerade noch rechtzeitig die 144 wählen.

Wie gross war die Lebensgefahr, in der Sie schwebten?
Schon sehr gross. Als ich auf der Intensivstation lag, kam plötzlich der Pfarrer in mein Zimmer. Da war mir klar, was hier vor sich geht, doch ich gab ihm gleich zu verstehen, dass ich keine Lust auf dieses Gespräch hatte, denn ich für mich wusste: Ich bin ein Kämpfer, ich komme hier wieder raus.

Was haben Sie damals über sich gelernt?
Dass man nichts im Leben aufschieben soll, weil plötzlich alles vorbei sein kann. Ich hatte zum Beispiel zwei Jahre zuvor einen speziellen Süsswein geschenkt bekommen, der einfach im Keller lag. Noch im Spital dachte ich mir: Wenn es mir wieder besser geht, trinke ich den, denn sonst trinkt den möglicherweise mal jemand anders.

Was hatte denn die beiden Embolien ausgelöst?
Ich erfuhr erst Monate später, dass ich seit Geburt einen Gendefekt in mir habe. Der sorgt dafür, dass mein Blut verklebt und sich Thrombosen bilden können. Dadurch, dass ich Spitzensportler und immer in Bewegung war, passierte dies lange Zeit nicht. Wäre ich Loki-Führer geworden, wie ich das als Kind wollte, hätte das wegen des vielen Sitzens meinen sicheren Tod bedeutet.

Dopingmittel können ebenfalls Embolien auslösen. Deshalb gab es damals, auch im Blick, Geschichten in diese Richtung.
Das war frustrierend für mich. Mir ging es damals so schlecht, und dann hätte ich mich auch noch gegen diese Vorwürfe wehren sollen. Doch ihr hattet damals Glück (lacht). Ich hatte keine Energie, um juristisch gegen euch vorzugehen. Doch die Tatsache, dass wir jetzt hier gemütlich zusammensitzen, zeigt, dass ich nicht nachtragend bin. Trotzdem hat mich dieser Generalverdacht oft genervt. Das Gemeine daran: Je erfolgreicher ich wurde, desto mehr Verdächtigungen gab es.

Die Gerüchte kamen damals auch auf, weil Sie oft in Kenia trainierten.
Zwischen 1998 und 2014 trainierte ich im Winter immer in Kenia, weil ich dort von den besten Läufern der Welt lernen und profitieren konnte. Mein Leben dort bestand nur aus Schlafen, Essen und Trainieren, trotzdem war ich dort immer sehr glücklich. In Kenia kriegte ich aber, gleich wie in der Schweiz, regelmässigen Besuch von den Dopingkontrolleuren. Zudem habe ich meine über all die Jahre gemessenen Blutwerte öffentlich gemacht. Wenn man diese analysiert, sieht man, dass keine sprunghaften Veränderungen erkennbar sind. Aber schlussendlich denkt zum Thema Doping jeder, was er denken will. Ich selber weiss aber, dass ich immer in den Spiegel schauen konnte.

Wie muss man sich Kenia Ende des 20. Jahrhunderts vorstellen?
Das war kein Vergleich zu heute. Zu Beginn nahm ich mein Handy erst gar nicht mit, da man eh keinen Empfang hatte. Ich ging einmal pro Woche in ein Internetcafé. Als ich mich jeweils in meinen Mailaccount einloggte, musste ich etwa 25 Minuten warten, bis die Seite geladen war. Und wehe, ein Mail hatte einen Anhang. Wenn du den öffnen wolltest, verging wieder eine halbe Stunde …

Was erlebten Sie als Weisser alles in Kenia?
In den ersten Jahren war ich noch oft der einzige Weisse. Kinder wollten meine Haut anfassen, weil sie noch nie zuvor einen Weissen gesehen hatten. Einmal ging ich in eine Bar und wollte etwas trinken, doch der Barkeeper meinte nur, für mich gäbe es hier nichts.

Als Sie 2008 in Kenia waren, wurde es plötzlich brenzlig.
Damals brachen nach den Präsidentschaftswahlen Unruhen aus. Rund um uns herum wurden Häuser von Weissen angezündet. Ein paar Kilometer von unserem Haus wurden 40 Menschen in einer Kirche bei lebendigem Leib verbrannt. Das machte schon Angst. Am Silvesterabend hatte ich Mitleid mit unserem Wachmann, der das ganze Areal von Häusern, in dem auch wir wohnten, bewachen sollte. Also ging ich zu ihm raus, um ihm etwas von unserem Essen zu bringen. Doch zuerst fand ich ihn nicht, denn er war hinter dem Haus am Schlafen. Ich glaube, er war der Einzige, der in dieser Nacht gut schlief … Ich entschied mich dann aber für die Rückreise in die Schweiz.

Zurück zu Ihren Erfolgen. Ein Jahr nach Ihrer Lungenembolie wurden Sie in Barcelona 2010 Europameister.
Dieses Comeback war fast schon hollywoodreif. Nach Kilometer 28 dachte ich, ich ziehe nun ein bisschen das Tempo an, um zu schauen, wer noch mitmacht, und plötzlich konnte mir keiner mehr folgen. Kurz vor dem Ziel hatte ich dann sogar noch Zeit, mir eine falsche Schweizer Fahne von einem Fan zu schnappen.

Warum eine falsche Fahne?
Als ich sie aufmachte, entdeckte ich darauf verschiedene Sponsoren-Logos. Da kam mir in den Sinn, dass André Bucher 2001 mit einer Fahne mit dem Erdgas-Logo darauf feierte und er deshalb beinahe den WM-Titel verloren hätte. Deshalb kam ich kurz in den Stress. Ich wollte die Fahne nicht wegwerfen, aber auch nicht disqualifiziert werden. Deshalb rannte ich mit der Fahne zusammengeknüllt in der Hand über die Ziellinie, damit ja niemand das Logo sehen konnte.

Hatten Sie wirklich all diese Gedanken während den letzten Metern?
Ja, manchmal war es aber auch komplett anders. Hätten Sie mich zum Beispiel während der WM 2007 in Osaka bei Kilometer 40 nach meinem Namen gefragt, hätte ich ihnen diesen nicht mehr sagen können.

Und was dachten Sie während Olympia 2012 in London?
(Lacht.) Eine gemeine Frage. Ich spürte damals schon nach 800 Metern, dass das heute ein – Entschuldigung für diesen Ausdruck – Scheisstag ist.

Doch noch lagen über 41 Kilometer vor Ihnen.
Ja, das war ein frustrierendes Gefühl. Vor dem Start hatte ich noch gedacht, dass ich im Ziel meinen Rücktritt verkünden werde. Doch nach dieser Pleite gingen wir nach Finnland in die Ferien, in denen ich viel mit meiner Frau diskutierte. Sie meinte nur: «Das wäre ein so frustrierendes Ende. Wenn du jetzt aufhörst, habe ich ein Leben lang einen frustrierten Partner an meiner Seite.» Deshalb hängte ich noch zwei Jahre an und trat dann erst 2014 nach der Heim-EM zurück.

Bei dieser Heim-EM 2014 in Zürich startete im Marathon auch Adrian Lehmann, der 2024 während eines Trainings überraschend verstarb. Wie nah ging Ihnen sein Tod?
Sehr nahe, da ich mit ihm befreundet war und ich ihn gelegentlich auch beraten habe. Gleichzeitig kam auch alles mit meiner Lungenembolie wieder hoch. Ich war damals auch 35, doch ich konnte die Intensivstation irgendwann wieder verlassen, doch er kam nicht mehr raus. Mich tröstet, dass er seine Träume immer ausgelebt hat. Trotzdem ist das ein Riesenverlust, und ich vermisse ihn sehr. Doch ich rede bis heute noch immer viel mit ihm.

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