Es ist der 5. August 2023. Nadine Riesen (25) steht in den Katakomben im Eden Park von Auckland und weint bittere Tränen. Das WM-Abenteuer ist zu Ende, die Nati geht gegen den späteren Weltmeister Spanien 1:5 unter. Die Appenzellerin macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube; es ist eine Mischung aus Enttäuschung, Frust, Trauer, aber auch Dankbarkeit für das Erlebte.
Knapp zwei Jahre später übermannen Riesen die Gefühle auch im vollen St. Jakob-Park. Bei der Nationalhymne von Beatrice Egli hat sie wässrige Augen. «Ich bin eine emotionale Person, darum hat mich dieser Moment schon sehr mitgenommen», sagt sie später. Aus diesem Grund schaut sie vor dem Spiel auch nicht auf ihr Handy. «Ich hatte Angst, dass ich zu viele Videos vom Fanmarsch bekomme. Dann wäre ich wohl noch etwas nervöser geworden.»
Doch im Spiel ist keine Spur von Nervosität zu sehen. Von der ersten Minute an kennt Riesen nur den Vorwärtsgang. Auf der linken Seite marschiert sie auf und ab, als gäbe es kein Morgen. Auch dank ihr erspielt sich die Nati ein klares Chancenplus und zeigt wohl die beste Halbzeit einer Nati an einer Endrunde. Riesen selbst belohnt sich mit ihrem zweiten Tor im 31. Länderspiel. Zusammen mit Captain Lia Wälti ist sie die auffälligste Spielerin auf dem Platz.
Erst seit zwei Jahren Profi
Trotz der letztlich bitteren Pleite ist Riesen eine der Gewinnerinnen an diesem Abend. Mit ihrem beherzten Auftritt spielt sie sich in die Herzen der Fussball-Schweiz – dabei hätte nicht viel gefehlt, dass aus ihr gar nie ein Fussballprofi geworden wäre. Denn lange ist für die ausgebildete Dentalassistentin der Fussball nur ein zeitintensives Hobby. Auch wenn Riesen ihr Nati-Debüt 2019 gibt und 2022 als Nachrückerin zu ihrem EM-Debüt kommt – voll auf die Karte Fussball setzt sie lange nicht.
Noch im Frühjahr 2023 vor der WM in Neuseeland arbeitet sie in einem Teilpensum als Tagesbetreuerin von Kindern in einer Tagesschule in Muri BE. Riesen, die mit drei älteren Schwestern im Appenzell aufgewachsen ist, wohnt in Bern in einer WG, spielt beim FC Zürich und sitzt für jedes Training fast vier Stunden im Zug. «Das entspannt mich total: Entweder lese ich ein Buch, höre Musik oder telefoniere. Zugfahren ist perfekt, um runterzufahren», sagt sie zu Blick.
Der Spagat zwischen Beruf und Fussball ist aber kein einfacher. Wie es ist, Profi zu sein, erlebt sie während ihrer Zeit in der Rekrutenschule. Immer wieder spielt sie aber auch mit dem Gedanken, dem Spitzensport den Rücken zu kehren. Ihr Berufswunsch: Rettungssanitäterin. Doch dieser muss warten, denn Riesen entscheidet sich nach der WM 2023 doch, voll auf die Karte Fussball zu setzen. Sie wechselt zu Frankfurt in die Bundesliga.
Bei der Eintracht isst Riesen allerdings hartes Brot. Zwar entwickelt sie sich fussballerisch, aber in der ambitionierten Equipe kommt sie nur punktuell zum Einsatz. Der Trainer setzt nicht auf sie, auch in ihrer zweiten Saison spielt sie nicht oft. Auch deshalb spielt Riesen mit dem Gedanken, den Klub nach der EM zu wechseln. «Ich will spielen – und das weiss Frankfurt», sagt sie vor der EM.
Den Fans etwas zurückgeben
Zumindest für die Nati hat sich das Durchbeissen aber gelohnt. Physisch hat Riesen noch einmal einen grossen Schritt gemacht, wodurch sie ihre technischen Mängel mehr als kompensiert. In der Nati erkämpft sie sich auf der linken Seite einen Stammplatz – und ist nach dem Auftritt gegen Norwegen aus der Startelf nicht mehr wegzudenken. Intern gilt sie als grösste Chaotin des Teams. Der Tenor ihrer Kolleginnen: «Sie ist etwas verpeilt – aber in einem liebenswerten und positiven Sinn.»
Auf dem Platz ist sie das nicht. Hätte der VAR ihr nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht, hätte sie in der 70. Minute auch noch einen Penalty rausgeholt. Doch das Happy End bleibt ihr und der Nati verwehrt, weshalb Riesen erneut auf einen Abend mit gemischten Gefühlen zurückblickt. «So etwas erlebt man nie wieder», sagt sie. «Ich habe mir darum vorgenommen, den Fans etwas zurückzugeben.» Mit ihrem beherzten Auftritt und ihrem Tor hat die erste Schweizer Entdeckung dieser EM das Versprechen mehr als erfüllt.