Darum gehts
Die geheime Rabattliste zählt exakt 1811 Einträge. Jeder Eintrag steht für ein Medikament, das Spezialärzte ihren Patienten direkt in der Praxis verkaufen. Auf der Liste finden sich Generika und sogenannte Biosimilars – Nachahmerprodukte von Originalpräparaten, deren Patentschutz abgelaufen ist.
Die Medikamente decken ein breites Spektrum ab: Die Aufstellung enthält günstige Schmerzmittel auf Basis von Ibuprofen und Paracetamol, aber auch extrem teure Krebsmedikamente, die mehrere Tausend Franken kosten. Erstellt hat die Rabattliste der Medizindienstleister Proqura.
Proqura agiert als Einkaufsgesellschaft, bisher sind ihr rund 800 Spezialärzte angeschlossen – etwa Krebsspezialisten, Kardiologen, Augenärzte oder Dermatologen. Die Firma hat die einzelnen Rabatte direkt mit den Pharmakonzernen ausgehandelt, derzeit mehr als 20 Firmen – darunter so bekannte Namen wie Sandoz, Mepha, Biogen, Amgen und Spirig Pharma.
Die Zahl der Ärzte, die über Proqura einkaufen, ist zuletzt stark gestiegen. Verwunderlich ist das nicht, denn für praktizierende Spezialmediziner sind die Rabatte höchst attraktiv. Die Spanne ist riesig – sie reicht von 3 bis 70 Prozent. Die Verbilligungen schlagen zu Buche: Das teuerste Präparat auf der Liste ist ein Krebsmittel mit dem Wirkstoff Pomalidomid. Es wird zur Behandlung von Knochenmarkkrebs (Multiplem Myelom) eingesetzt.
Krebsmedikament zum halben Preis
Der offizielle Einkaufspreis (Ex-Factory-Preis) beträgt gemäss Liste 3166 Franken für eine Monatspackung. Spirig Pharma gibt Spezialärzten einen Rabatt von 1583 Franken, das entspricht 50 Prozent. Sandoz gewährt lediglich 40 Prozent, Teva 45 Prozent für das Nachahmerpräparat mit dem exakt gleichen Wirkstoff. Ein klarer Anreiz für Onkologen, das Produkt von Spirig zu verschreiben.
Rabatte von 40 bis 50 Prozent sind aussergewöhnlich hoch. Das zeigt, wie hart der Verdrängungskampf im Markt für Nachahmerprodukte ist. Spirig liess eine Anfrage zu den Gründen des hohen Rabatts unbeantwortet.
Noch extremere Preisnachlässe bietet Labatec. Das Genfer Unternehmen gehört zum Generikahersteller Hikma Pharmaceuticals, der vor allem im arabischen Raum aktiv ist. Zoledronat, ein Medikament gegen Knochenabbau, wird gemäss der Liste vom Juni 2025 mit einem Rabatt von 70 Prozent angeboten. Offiziell kostet es 108 Franken – nach Abzug bleiben noch 33 Franken.
Auch ein Generikum der Potenzpille Viagra befindet sich auf der Liste. Viatris Pharma verkauft das Mittel mit dem Wirkstoff Sildenafil mit einem Rabatt von 30 Prozent. Eine Packung mit 90 Filmtabletten kostet statt 424 Franken noch rund 300 Franken.
Das Verstörende an diesen extrem hohen Verbilligungen: Patientinnen und Patienten profitieren nicht direkt – sie wissen nicht einmal davon. Sie müssen den offiziellen Endverkaufspreis zahlen, der auf den Rechnungen der Ärzte ausgewiesen ist. Dieser setzt sich aus dem Einkaufspreis und einer Marge für den Praxisverkauf zusammen, die je nach Preissegment schwanken kann. Brisant: Auch die Krankenkassen sehen die Details nicht, wie Helsana gegenüber Blick bestätigt. Das ist umso erstaunlicher, als ein Teil der Rabatte zu den Kassen zurückfliesst.
«Qualitätsmassnahmen» – reine Alibiübungen?
Hinter den Nachlässen steckt ein komplexes System, das der Bund 2020 neu eingeführt hat. Eigentlich wollte die Politik Rabatte auf Medikamente komplett abschaffen. Doch nach einem Seilziehen einigte man sich auf einen Kompromiss: Rabatte sind weiterhin erlaubt, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. So dürften Ärzte einen Anteil der Rabatte behalten, sofern sie die Behandlungsqualität im Interesse der Patientinnen und Patienten verbessern. Der Deal sieht vor: 51 Prozent der Rabatte sollen an die Kassen fliessen, maximal 49 Prozent dürfen Leistungserbringer einbehalten – also die Ärzte.
Um an die Gelder zu kommen, müssen Ärzte «Qualitätsmassnahmen» durchführen. Damit das einfacher geht, hat Proqura einen umfangreichen Qualitätskatalog erarbeitet. Manche der aufgelisteten Massnahmen machen den Anschein einer Alibiübung. So gelten bereits Weiterbildungen, die über das nötige Minimum hinausgehen, oder die Pflege eines Medikamentenplans als «Qualitätsmassnahme».
Die Einkaufsorganisation Proqura scheint inzwischen zu laufen wie geschmiert. Im Juli bezifferte das Unternehmen die seit 2020 erzielten Einsparungen auf 50 Millionen Franken. Gemäss Helsana dürfte dieser Wert realistisch sein. Doch wie viel zu den Ärzten fliesst, ist völlig intransparent. Helsana schreibt dazu: «Wir gehen stark davon aus, dass die effektiv erzielten Rabatte der Zwischenhändler um einiges höher sind.»
Gemäss der 51/49-Prozent-Regel könnten den Ärzten ebenfalls knapp 50 Millionen Franken zukommen. Dominique Froidevaux, Geschäftsführer von Proqura, bestreitet dies: Dass so viel zu den praktizierenden Ärzten fliesse, sei falsch. «Die teilnehmenden Ärzte beanspruchen die ihnen maximal zustehenden 49 Prozent für Qualitätsmassnahmen nicht vollständig.»
Helsana pocht jedenfalls auf mehr Transparenz: Leider gebe es keine Offenlegungspflicht, weshalb es für die Krankenversicherer sehr schwierig sei, Fragen zu diesem Thema nachzugehen. «Wir haben das BAG jedoch bereits auf diese Gesetzeslücke aufmerksam gemacht und hoffen, dass es Möglichkeiten gibt, sie zu schliessen.»