Foto: Linda Käsbohrer

80 Jahre Kriegsende
Herr Schläppi floh vor den Russen

Der Aargauer Fred Schläppi (88) wuchs in Nazideutschland auf. Als die Rote Armee einmarschierte, musste er mit seiner Familie fliehen. Nach Monaten voller Angst und Hunger schafften sie es in die Schweiz. Ganz alleine – denn die Behörden halfen ihnen nicht.
Publiziert: 12.05.2025 um 12:14 Uhr
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Fred Schläppi (88) lebt mit seiner Frau in Zofingen AG. Seine Flucht vor 80 Jahren aus Nazideutschland lässt ihn bis heute nicht los.
Foto: Linda Käsbohrer

Darum gehts

  • Die Schweizer Familie Schläppi floh im Zweiten Weltkrieg aus Nazideutschland in die Schweiz
  • 1944 und 1945 vergewaltigten die Alliierten 860'000 deutsche Frauen
  • Die Schweiz unterliess es, der Familie zu helfen – so wie vielen Flüchtlingen damals
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft

Er hat sie gesehen, die Männer, Frauen, Kinder und Alten, die bei Schnee und eisiger Kälte aus den Ostgebieten von Nazideutschland flohen. Er hat sie gehört, die Schüsse aus den Gewehrläufen der Russen. Er hat sie gerochen, die viermotorigen Flugzeuge der Engländer, deren Rauch den Himmel schwarz färbten. Fred Schläppi (88) war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit seiner Familie auf der Flucht. Heute, 80 Jahre später, schüttelt er den Kopf, weil er im Blick das Interview zum Zweiten Weltkrieg gelesen hat. Dass ein Historiker, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, über den Krieg spricht – «eine Frechheit!». «Woher will er wissen, wie es war?!», poltert er. Wir sitzen bei Schläppi in Zofingen AG im Wohnzimmer und begreifen allmählich, weshalb er sich aufregt. Er sagt: «Ich habe es erlebt.» Die Bilder, Gerüche, Geräusche. Sie sind noch da.

Fred Schläppi hat im Aargau mit seiner Frau zwei Buben grossgezogen, führte mit ihr bis zur Pensionierung eine Poststelle. Es hätte ganz anders kommen, er hätte ein ganz anderer werden können. Schläppi ist in Jacobshagen, Westpommern, geboren. Heute Polen, früher Nazideutschland. Sein Grossvater war Ende des 19. Jahrhunderts von der Lenk im Berner Oberland nach Deutschland ausgewandert. Sein Vater, auch er Schweizer Staatsbürger, baute sich mit seiner Frau und zwei Kindern als Viehbauer eine Existenz auf. Bis sie 1944 alles verloren. «Als die Russen kamen», sagt er, der Sohn. Vor ihm auf dem Tisch liegen ein Fotoalbum mit Schwarz-Weis-Bildern und lauter vergilbte Papiere, Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie zeugen davon, wie die Schweiz damals ihre Landsleute im Stich liess.

Kälte, Angst, Hunger

Im Herbst 1944 marschierte die Rote Armee in Ostdeutschland ein und rückte Richtung Westen vor. Millionen von Deutschen flohen. Viele starben an Kälte und Hunger. Oder die sowjetischen Soldaten misshandelten, vergewaltigten, ermordeten sie. Fred Schläppi war acht Jahre alt, als seine Mutter und die Grosseltern mit ihm und der kleinen Schwester aufbrachen. Der Vater kam später nach. Sie wollten in die Schweiz. Doch «wir mussten an den Russen vorbei». Er deutet aus dem Fenster. Strassen wie heute habe es nicht gegeben. Bestenfalls Feldwege. «Wir hatten nur unsere Füsse.» Und sicher auch Habseligkeiten? Er lacht auf, weil er darüber nicht weinen kann.

Die Familie hatte nichts als die Kleider, die sie am Leib trug. Die kleine Schwester habe anfangs ein Köfferchen mitgeschleppt, an dem sie hing. «Das blieb in einem Maislager liegen.» Monatelang waren die fünf unterwegs. Übernachteten in Schuppen, Häusern und Bauernhöfen, die andere verlassen hatten. Die Türen standen offen, die Ställe waren noch voller Kuhdreck. Sie schliefen in der Futterkrippe. «Dort war es etwas weniger kalt.» Schläppi deutet mit dem Kinn zum Balkon. Wir sollten mal versuchen, eine Stunde lang im T-Shirt in der Kälte zu stehen. «Wir hatten kaum etwas zum Anziehen.»

Am schlimmsten war die ständige Angst. «Die und der Hunger», sagt er und fügt unvermittelt an: Die Frauen habe man natürlich einsperren müssen. Wir stutzen, verstehen nicht. Schläppi schaut entgeistert: «Sind Sie naiv?!» An einem der Orte, wo sie haltmachten, stand eine riesige Lokomotive. Die Mutter und Schwester kletterten mit anderen Frauen in den Dampfkessel, die Männer verschraubten den Zugang von aussen. «Wegen der Russen», sagt er. «Die haben damals die Frauen durchgenommen.» Seine Erinnerungen lassen sich nicht überprüfen. Doch die Historikerin Miriam Gebhardt hat das Grauen im Buch «Als die Soldaten kamen» dokumentiert: 1944 und 1945 vergewaltigten die Alliierten – auch westliche – 860’000 deutsche Frauen.

Die Schweiz blieb untätig

Und die Schweizer Behörden? Wo waren sie in diesen dunklen Stunden?

Fred Schläppi schiebt ein Dokument über den Tisch, er hat es eingerahmt. «Schutzbrief» steht darauf. Auf der Rückseite das Gleiche auf Kyrillisch. Datum: 9. November 1944. Im Zweiten Weltkrieg stellte die Schweiz Auslandschweizern diese Papiere aus, um sie vor Verfolgung zu schützen. Die einzige Hilfe, die sie bekamen, sagt er. «Wir waren der Eidgenossenschaft egal.»

Die Schweiz war im Zweiten Weltkrieg im Umgang mit Flüchtlingen gnadenlos. Juden wies man ab 1942 zu Tausenden an der Grenze ab. Und Schweizer Flüchtlinge hatten es schwer.

Familie Schläppi war auf sich gestellt. Die Schweizer Gesandtschaft in Deutschland gab es Schläppis Vater am 13. April 1945 schriftlich. In dem Dokument, das Blick vorliegt, steht: «Ausreisemöglichkeiten nach der Schweiz mit Sammeltransporten (...) bestehen gegenwärtig nicht.» Die Gesandtschaft erwähnt auch, welche Papiere der Vater braucht, sollte er die Ausreise mit der Familie auf eigene Faust versuchen wollen.

Im Mai 1945 kamen die Schläppis ins Land. Sie sprachen nur Plattdeutsch. Und spürten rasch: Sie waren Fremde. Sie waren nicht willkommen. Am wenigsten dort, wo sie hinkamen: In Lenk, ihrem Heimatort. Schon den Transport vom Bahnhof zum Haus, wo man die sechsköpfige Familie unterbrachte, mussten sie selbst bezahlen. Fred Schläppi hat die Quittung als Kopie aufbewahrt: 10.60 Schweizer Franken. Die Familie war verarmt. Die Gemeinde schoss das Geld vor. Ein Onkel, der in die USA geflohen war, half ihnen später aus. Schläppi schüttelt wieder den Kopf: «Wir waren die Hinterletzten für die.»

Sie waren «die Schwaben»

Fortan hauste die Familie im baufälligen Dachstock eines Restaurants. «An zwölf Stellen regnete es heftig hinein», erzählt er. Nachts mussten sie die Kübel und Becken leeren, mit denen sie das viele Wasser auffingen. Oft taten sie kein Auge zu. Später quartierte man sie in ein leer stehendes Schulhaus ein – ohne Badezimmer.

Niemanden in der Gemeinde kümmerte das. Fred Schläppi begriff erst viel später, warum. «Für die Schweizer waren wir ‹Schwaben›.» Die, die am Krieg schuld waren. Die Leute im Dorf liessen sie das spüren. Weigerten sich, mit ihnen zu sprechen. Sogar der Lehrer habe einen grossen Bogen um ihn und die Schwester gemacht, sagt er.

Das änderte sich erst 1948. Dank eines Verwandten konnte die Familie in eine anständige Wohnung im Aargau ziehen. Schläppis Vater fand Arbeit. Und die Kinder Gspänli. Sie entkamen der Armut.

Geblieben ist die Enttäuschung. Der Groll. Fred Schläppi sagt, er spreche nie darüber. «Bis heute weiss fast niemand, woher ich komme.» Weil er sich schämt?

«Ja, für die Schweizer Eidgenossenschaft.»

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