Lehrerin hatte Transjungen in der Klasse
«Für die anderen Kinder war es kein Thema»

Sabrina Leu* (62) arbeitet in der Stadt Zürich als Primarlehrerin. In einer ihrer Klassen hatte sie einen Transjungen. Diese Erfahrung hat die routinierte Pädagogin stark geprägt.
Publiziert: 05.11.2017 um 14:09 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 06:05 Uhr
«Dass er ein Bub ist, war das Normalste der Welt. Es hat der Klasse auch gut getan», sagt die Lehrerin über den Transjungen in ihrer Klasse.
Foto: Thomas Meier
Interview: Thomas Schlittler

SonntagsBlick: Frau Leu, woran merken Lehrer, dass ein Transkind in ihrer Klasse sitzt?
Sabrina Leu: Lange habe ich gar nichts gemerkt. Anfangs hielt ich das Kind für ein ungewöhnlich aggressives, schulisch schwaches und – ehrlich gesagt – etwas ­eigenartiges Mädchen. Es war eher unbeliebt, weil es die anderen Kinder, vor allem die Mädchen, ständig angegriffen, ausgelacht und gestört hat. Erst gegen Ende der vierten Klasse, im Schullager, ging mir ein Licht auf.

Wie das?
Zuerst wollte das Kind um keinen Preis mit Mädchen ins Zimmer. Ich sagte: «Ich weiss, dass du lieber mit Buben zusammen bist. Aber du wirst ja wohl einsehen, dass du nicht in ein Bubenzimmer gehörst.» Im Klassenlager kamen dann die anderen Kinder zu mir und sagten: «Frau Leu, es gibt ein Geheimnis. Sie ist in Wirklichkeit ein Bub.» Das Kind selbst hat das herumerzählt. Zuerst den anderen Kindern und dann auch uns.

Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich begann, mich vertieft mit dem Thema zu beschäftigen, und holte Unterstützung bei Fachpersonen vom Transgender Network Switzerland. In diesen Gesprächen und im Austausch mit dem Kind wurde klar, dass es ein Transbub sein muss – besser gesagt: ein Bub. Es gab keine Zweifel mehr. Kurze Zeit später hat das Kind dann ein Französisch-Heft zum ersten Mal mit einem Bubennamen angeschrieben. Sagen wir mit «Fritz». Die Arbeit war erstaunlich gut für seine Verhältnisse. Ich schrieb darunter: «Très bien fait, Fritz!» Als er das Heft zurückbekam, strahlte er übers ganze Gesicht. Ab da war er nur noch der Fritz.

Und was sagten die Mitschüler?
Für die anderen Kinder war es kein Thema. Dass er ein Bub ist, war das Normalste der Welt. Es hat der Klasse auch gutgetan. Denn seither war er ein beliebter, humorvoller, einfühlsamer und rassiger Mitschüler.

Keine Diskussionen, nichts?
Nein, wirklich nicht. Ich war selbst überrascht, weil ich damit gerechnet hatte, dass irgendwann Fragen kommen. Einzig in der
sechsten Klasse, als das erste Mal Sexualunterricht auf dem Stundenplan stand, kam das Thema nochmals zur Sprache. Ein Junge fragte: «Aber Frau Leu, wenn die Mädchen und Buben getrennt Unterricht haben, wo ist dann Fritz?» Ich antwortete: «Jeder ist dort, wo er hingehört.» Der Junge war erleichtert. Er war der beste Freund von Fritz und hatte befürchtet, dass sie nicht zusammen sein könnten.

Es lief also alles problemlos?
Innerhalb des Klassenzimmers schon. Im Rest des Schulhauses war es aber schwierig. Es fehlte an Wissen über Transgender und die Bereitschaft, sich von Fachpersonen informieren zu lassen. Daraus resultierte eine Menge Unvermögen, mit der Situation kindgerecht umzugehen. Einige im Team waren strikt dagegen, dass Fritz das Buben-WC und die Buben-Garderobe benutzte. Teilweise schoben sie in der Pause gar Wache, um das zu verhindern. Das führte dazu, dass Fritz den ganzen Tag nichts trank. Er wollte um keinen Preis aufs Mädchen-WC.

Wie war das Verhältnis zu den Eltern?
Die Eltern der Mitschüler hatten keine Probleme. Die Eltern von Fritz hatten aber Mühe damit, ­ihren Sohn zu akzeptieren. Ich konnte es ein Stück weit nachvollziehen. Die meisten Eltern brauchen Zeit, um zu verstehen. Das war auch der Grund, wieso auf dem Zeugnis von Fritz am Ende ein Mädchenname stand.

*Name von der Redaktion geändert, damit keine Rückschlüsse auf den Transjungen «Fritz» möglich sind.

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